: Schwachstellen im Brandschutz
von Güven Purtul
27.09.2022 | 19:31 Uhr
Gefährliche Kunststoffe
27.09.2022 | 08:31 minEs begann mit einem kleinen Feuer auf einem Balkon und wuchs sich rasend schnell zu einem Flammen-Inferno aus: 130 Menschen verloren bei dem Großbrand in der Essener Bargmannstraße am 21. Februar ihr Zuhause, 36 Wohnungen wurden zerstört. Dass niemand ums Leben kam, war glücklichen Umständen zu verdanken.
Brandursache weiter ungeklärt
Die Bauministerin von Nordrhein-Westfalen, Ina Scharrenbach, versprach kurz danach umfassende Aufklärung. Mehr als sieben Monate später liegt jedoch noch nicht mal der Bericht des Sachverständigen vor, der klären soll, warum sich das Feuer so schnell ausbreitete.
Wir warten als Oberste Bauaufsichtsbehörde immer noch auf den kriminaltechnischen Bericht.
"Wir haben in Essen auch ein Windereignis in besonderem Maße gehabt, wo eben Gutachter auch sagen, das hat die Brandausbreitung deutlich beschleunigt. Wir schauen uns natürlich sowohl die Frage der Balkone an als auch des Unterbodens, der eingesetzt wurde und möglicherweise auch zu einer Beschleunigung beigetragen hat, das ist aber eben noch nicht abgeschlossen."
Von den Balkonen waren nach dem Feuer nur die Brüstung und einige Träger aus Stahl übriggeblieben. Dabei waren sie vor dem Brand großzügig mit Plexiglas-Platten verkleidet. Das Material gilt als "normalentflammbar", brennt also nach Brandeinwirkung eigenständig weiter.
Normalentflammbare Baustoffe an Balkonen zulässig
An Fassaden von Mehrfamilienhäusern erlauben die Landesbauordnungen nur schwerentflammbare Baustoffe, damit sich ein Feuer nicht unkontrolliert über mehrere Geschosse ausbreiten kann. Allerdings zählen Balkone baurechtlich nicht zur Fassade.
Plexiglas sei zur Verwendung an Balkonen zugelassen und "kein Widerspruch zu Brandschutzauflagen", schreibt ein Sprecher des Vermieters Vivawest auf Anfrage. Dennoch ließ die Wohnungsgesellschaft die Plexiglas-Verkleidungen an baugleichen Gebäuden einige Wochen nach dem Brand aus "vorsorglichen Sicherheitsgründen" entfernen.
"Dass Balkonverkleidungen brennen ist nicht überraschend", sagt Peter Bachmeier von der Branddirektion München. Erstaunlich sei vielmehr, dass in Essen auch die Balkonböden brannten. Statt aus Beton bestanden diese ebenfalls aus Kunststoff, genauer aus WPC-Dielen, einem Holz-Kunststoff-Gemisch (Wood-Plastic-Composite). Solche Dielen werden häufig auf Terrassen verlegt. WPC gilt jedoch – wie Plexiglas – als normalentflammbar.
Juristischen Graubereich bei Errichtung von Balkonen
Eine solche Bauweise sei früher nicht zulässig gewesen, sagt Bachmeier. Denn Balkone werden normalerweise in Verbindung mit der Geschossdecke angeordnet, bestehen daher meist aus dem gleichen Material wie die Decken, welche laut Bauordnung einen ausreichenden Feuerwiderstand aufweisen müssen.
2002 beschloss die Bauministerkonferenz eine neue Musterbauordnung und nahm Balkone von den Anforderungen an Decken aus, sofern diese nicht als Rettungsweg dienen. Die Bauminister wollten deregulieren und das Bauen vereinfachen. Gerade die Balkonplatte spiele jedoch im Brandschutz eine wichtige Rolle, betont Bachmeier:
"Wenn Flammen gegen eine nichtbrennbare Platte schlagen, dann wirkt das wie eine Sperre. Wenn sich aber die Platte sehr schnell auch entzündet, dann kriege ich das Feuer auch auf die vertikalen Teile und dann läuft es auch von Geschoss zu Geschoss." Es sei aber wichtig, dass ein Feuer möglichst bis zum Eintreffen der Feuerwehr in einer Etage bleibt.
Bachmeier: Erneute Großbrände nicht ausgeschlossen
Ein Sprecher des Bauministeriums NRW meint, dass "normalentflammbare Baustoffe bei gewöhnlichen Wetterverhältnissen nicht zu einer derart raschen Brandausbreitung beitragen" dürften, "wie sie in Essen zu beobachten war". Die Bauvorschriften gingen "von üblichen Brandszenarien aus".
"Brandschutz für schönes Wetter", kritisiert Bachmeier, "wir machen ja auch keine Statik für schönes Wetter". Ein Großbrand wie in Essen könne sich bei entsprechender Bauweise jederzeit wiederholen: "Wenn Balkonplatten aus brennbarem Material erstellt sind, müssen wir damit rechnen, dass solche Ereignisse immer wieder passieren".