Interview
: Armutsforscher fordert Corona-Soli
18.05.2022 | 20:30 Uhr
Ärmere Bevölkerungsgruppen tragen die Kosten der Corona-Pandemie überproportional, kritisiert der Armutsforscher Christoph Butterwegge. Er fordert einen sozialen Kurswechsel.ZDFheute: Corona ist ein "Reißaus"-Thema. Sie hingegen haben sich die Mühe einer vorläufigen Bilanz gemacht. Weshalb?
Christoph Butterwegge: Ich wollte herausfinden, ob unser Kardinalproblem - die sozioökonomische Ungleichheit - durch die Pandemie verstärkt worden ist. Nicht das neuartige Coronavirus selbst hat die Kluft zwischen Arm und Reich weiter vertieft. Vielmehr traf es auf Wirtschaftsstrukturen, Eigentumsverhältnisse und Verteilungsmechanismen, die dafür gesorgt haben, dass die Reichen reicher und die Armen zahlreicher geworden sind.
Wer oben war, ist meist weiter aufgestiegen. Andere sind noch stärker als bisher abgerutscht. Die politisch Verantwortlichen betonen zwar, den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken zu wollen, haben aber auch während der Pandemie die Polarisierung gefördert.
Christoph Butterwegge …
… erforscht seit Jahrzehnten wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland. Bis 2016 lehrte der Politikwissenschaftler als Professor an der Universität Köln. Das Problem wachsender Ungleichheit bezeichnet Butterwegge als "das Kardinalproblem unserer Gesellschaft, wenn nicht der gesamten Menschheit". Der Kölner ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen zum Thema "Armut und soziale Ungleichheit"; sein aktuelles Sachbuch trägt den Titel "Die polarisierende Pandemie. Deutschland nach Corona".
ZDFheute: Mit Blick auf "Deutschland nach Corona" zeichnen Sie das Bild einer "zerrissenen", "verunsicherten" und "erschöpften" Republik. Was ist da schiefgelaufen?
Butterwegge: Die Bundesregierung hat zum Beispiel gleich zu Beginn der Pandemie großen Unternehmen mit Milliardensummen geholfen, während Wohnungs- und Obdachlose, Geflüchtete oder Transferleistungsempfänger sehr spät und eher wenig an Unterstützung erfahren haben. Ich kritisiere nicht, dass versucht wurde, Arbeitsplätze zu retten. Es geht mir vielmehr um die verteilungspolitische Schieflage der Finanzhilfen.
ZDFheute: Was meinen Sie damit konkret?
Butterwegge: Der im März 2020 aufgelegte Wirtschaftsstabilisierungsfonds des Bundes hatte ein Volumen von 600 Milliarden Euro. Arme, die mit den früh steigenden Lebensmittelpreisen zu kämpfen hatten, bekamen einmalig 150 Euro - 14 Monate nach Ausbruch der Pandemie. Dieser Vergleich zeigt, welche Prioritäten man gesetzt hat.
ZDFheute: Welche Lehren sollte Deutschland ziehen?
Butterwegge: Es muss darum gehen, die besonders gefährdeten Menschen, auch sozial vulnerable Gruppen, besser vor solchen Krisen zu schützen. Ich schlage deshalb vor, jene Personen, die in der Pandemie reicher geworden sind, stärker an deren Kosten zu beteiligen. Das ginge über einen Corona-Solidaritätszuschlag oder einen Lastenausgleich.
ZDFheute: Kritiker sagen, Lastenausgleich sei eine Metapher für Enteignung.
Butterwegge: Dazu gehört auch Bundesfinanzminister Christian Lindner, obwohl das FDP-Politiker früher anders sahen. Als das Parlament 1952 die Vermögensabgabe im Lastenausgleichsgesetz beschloss, um vom Krieg besonders Geschädigte finanziell zu unterstützen, waren die Liberalen eine der Regierungsparteien und stellten den Justizminister.
Die heutige Ampel-Regierung macht aus der Umverteilung des Vermögens von oben nach unten genau wie die Große Koalition vor ihr ein Tabu. Dabei hat in der Pandemie das Gegenteil stattgefunden - Umverteilung von unten nach oben, was korrigiert werden muss. Ein Lastenausgleich wäre keine Enteignung, sondern Ausdruck von Solidarität und sozialer Gerechtigkeit.
ZDFheute: Wagen Sie einen politischen Ausblick?
Butterwegge: Die geplante Erhöhung des Mindestlohns ist zumindest ansatzweise geeignet, den Niedriglohnsektor einzudämmen und die Armut zu verringern. Gleichzeitig verweigert man sich aber einer Begrenzung des Reichtums, sodass die Ungleichheit in der Gesellschaft weiter zunehmen wird.
Ich fürchte sogar, dass die viel zitierte Zeitenwende in der Außen- und Militärpolitik eine Zeitenwende in der Wohlfahrtsstaatsentwicklung nach sich zieht und die Armen durch Kürzung von sozialen Leistungen am Ende die Kosten der Pandemie und der Aufrüstung tragen müssen. Das würde die Gesellschaft noch mehr zerreißen.
Das Interview führte Marcel Burkhardt.