: Wenn mit Corona der soziale Abstieg droht

von Eleni Klotsikas und Anne Herzlieb
19.07.2022 | 10:37 Uhr
Über 29 Millionen Menschen waren oder sind mit Corona infiziert. Jeder zehnte entwickelt Langzeitfolgen. Viele Long-Covid-Betroffene können ihren Job nicht mehr voll ausüben.

Long-Covid-Patienten wie der Moderatorin Visa Vie fällt es schwer weiter voll zu arbeiten.

09.08.2022 | 16:44 min
Mit dem Fahrrad von München nach Venedig radeln, dreimal die Woche Sport treiben, den Job als Sonderschulpädagogin - all das liebte Anja, die ihren vollen Namen nicht nennen will. Denn von ihrem früheren Leben ist für die 46-Jährige nicht mehr viel übrig geblieben.
Im März 2020 infizierte sie sich mit Corona. Heute schafft es Anja an manchen Tagen kaum aus dem Bett. Sie leidet an einer besonders schweren Form von Long Covid - dem Chronischen Fatigue Syndrom.

Körperlicher Zusammenbruch bei minimaler Belastung

Ein andauernder Erschöpfungszustand macht es Betroffenen unmöglich, ihren Alltag zu bestreiten. Bei nur minimaler Belastung droht ihr der körperliche Zusammenbruch, tagelang muss sie dann im Bett verbringen. Sie fühlt sich "gefangen im eigenen Körper".
Die Ärztin Nora Drick an der Post Covid Ambulanz der Medizinischen Hochschule sagt, Long Covid eindeutig festzustellen sei auch im dritten Pandemiejahr immer noch schwierig:
Es gibt ja keine eindeutige Diagnosekriterien und auch die Tatsache, dass es ja über 200 verschiedene Symptome gibt, macht es zusätzlich schwer.
Nora Drick, Ärztin Post Covid Ambulanz
Deshalb werde Long Covid im Ausschlussverfahren diagnostiziert.
Quelle: ZDF

Long Covid als Berufskrankheit nur selten anerkannt

Anja kämpft darum, ihre Erkrankung als Berufskrankheit anerkennen lassen. Bisher wird Long Covid nur bei Angestellten im Gesundheitswesen oder in der Wohlfahrtspflege als Berufskrankheit anerkannt.
Als Sonderschulpädagogin sei sie dem Infektionsgeschehen nicht in einem ähnlich hohen Maße ausgesetzt gewesen, schreibt ihr die Unfallkasse.
Diese Regelung hat das Bundesarbeitsministerium getroffen. Auf Nachfrage von "frontal" heißt es:
Die laufende und abgeschlossene arbeitsmedizinische Forschung konnte bislang kein wesentlich erhöhtes Infektionsrisiko für Covid-19 bei Lehrerinnen und Lehrern gegenüber der Allgemeinbevölkerung nachweisen.
Statement Bundesarbeitsministerium
Quelle: Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung

Wenn Corona zum Armutsrisiko wird

Anja will die Entscheidung der Unfallkasse nicht hinnehmen und dagegen klagen, auch wenn das ein langer Kampf wird. Verliert sie diesen, bleibt ihr nur noch ein Leben von Hartz IV. So ergeht es vielen, sagt Karin Wüst, Leiterin der Beratungsstelle für Berufskrankheiten in Berlin.
Nach sechs Wochen Lohnfortzahlungen bekommen Betroffene von den gesetzlichen Krankenkassen 72 Wochen lang Krankengeld gezahlt. Wenn auch dieses ausläuft, bliebe nur noch der Gang zum Jobcenter.
Das ist wirklich für viele Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet haben, ganz, ganz schrecklich.
Karin Wüst, Berliner Beratungsstelle Berufskrankheiten
Selbst Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach forderte kürzlich in einem Tweet: "Den finanziellen Absturz der Opfer müssen wir stoppen". Doch auf Nachfrage verweist sein Ministerium lediglich auf Reha-Leistungen der Deutschen Rentenversicherung. Dabei würden "Funktionsstörungen bei Long-COVID bereits heute gezielt durch verschiedene Angebote therapiert."

Mehr Forschung unbedingt notwendig

Für Menschen wie Anja, die am Chronischen Fatigue Syndrom leiden, gebe es derzeit noch keinen Heilungserfolg. Sie würden aber nur ein bis zwei Prozent aller Long-Covid-Patienten ausmachen, sagt Professor Tobias Welte, der an der Medizinischen Hochschule Hannover die Long-Covid-Ambulanz leitet.
Bei den meisten Betroffenen gingen die Beschwerden irgendwann zurück, sie bräuchten einfach mehr Zeit für die Genesung, glaubt Tobias Welte. Auch deshalb warnt er davor junge Menschen zu schnell zu berenten und plädiert für "Zwischenlösungen".
Dafür braucht es aber den Willen der Politik. Um sagen zu können, was mit Long Covid auf unser Gesundheits- und Sozialsystem zurollt, brauche es mehr Forschung und mehr Daten, sagt die Münchener Epidemiologin und Biostatistikerin Ursula Berger:
Nur dann können wir auch abschätzen, was kosten uns die Maßnahmen als Gesellschaft und was kostet uns jede Infektion.
Ursula Berger, Epidemiologin und Biostatistikerin
Denn schon bevor der Herbst begonnen hat, zeichnet sich ab: Die Zahl der Corona-Infektionen wird weiter steigen und damit auch von Long-Covid-Betroffenen, denen der soziale Abstieg droht.

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