Interview

: Die kalte Jahreszeit bewältigen

09.10.2022 | 10:51 Uhr
Winterdepression oder Depression? Psychiater Ulrich Hegerl zeigt die Unterschiede auf und beschreibt Alltagsstrategien für beide Krankheitsbilder.
Eine junge Frau leidet an einer WinterdepressionQuelle: dpa
ZDF: Viele Menschen haben gerade den Eindruck, nur noch negative Nachrichten zu hören. Mit dem beginnenden Winter und der Energiekrise häufen sich auch Existenzängste und finanzielle Sorgen. Wie hängen diese äußeren Umstände mit dem Aufkommen von Depressionen zusammen?
Ulrich Hegerl:
Dass viele Menschen sich Sorgen machen und bedrückt sind, das würde ich einfach als eine gesunde menschliche Reaktion bezeichnen.
Prof. Dr. Ulrich Hegerl, Vorsitzender Deutsche Depressionshilfe
Verbreitet ist die Vorstellung, dass eine Art Kontinuum besteht zwischen Sorgen und Bedrückung durch äußere Faktoren und dass man dann, wenn diese stark genug sind, in eine Depression rutscht. So ist das aber in der Regel nicht. Die Menschen, die keine Veranlagung zu Depressionen haben, werden auch in diesen bedrohlichen Zeiten keine Depression bekommen.
Es ist sogar so, dass sich manche psychische Erkrankungen wie Angststörungen in schlimmen Zeiten, zum Beispiel Kriegszeiten, sogar bessern und krankhafte Ängste durch Realängste ersetzt werden. Bei Menschen mit einer Veranlagung zu Depressionen, da möchte ich nicht ausschließen, dass sie in Grübelschleifen geraten und die Dinge noch katastrophaler erleben, als sie in Wirklichkeit sind - und sich sozusagen in eine Depression hineinarbeiten.

Hier finden Sie Anlaufstellen und Hilfsangebote für Menschen mit Depressionen.

08.09.2022 | 10:28 min
ZDF: Wie unterscheidet man eine Winterdepression von einer typischen Depression?
Hegerl:
Zunächst muss man wissen, dass die meisten Depressionen im Winter keine Winterdepressionen sind. Und die wirklich schweren, oft lebensbedrohlichen Depressionen, sind nicht die Winterdepressionen.
Prof. Dr. Ulrich Hegerl, Vorsitzender Deutsche Depressionshilfe
Die Symptome sind weitgehend ähnlich. Wir haben eine bedrückte Stimmung und einen gestörten Antrieb. Bei der Winterdepression sind die Betroffenen eher müde und schlafen vermehrt. In der typischen Depression sind die Menschen zwar müde, aber sie können nicht gut einschlafen, sondern fühlen sich permanent angespannt.
Bei der typischen Depression haben die Patienten keinen Appetit, während man in der Winterdepression eher vermehrt isst und oft Heißhunger hat. Und natürlich tritt die Winterdepression ausschließlich in den Herbst- und Wintermonaten auf.
ZDF: Wann und wo sollte man sich Hilfe suchen?
Hegerl: Wenn man merkt, dass der Leidensdruck groß wird, und man sich selbst nicht mehr wiedererkennt. Wenn man nachts gar nicht mehr zur Ruhe kommt oder wenn man permanent so erschöpft ist, dass kleine Dinge zu einem großen Berg werden. Da kann man sich an genau drei Berufsgruppen wenden.
Die einen sind die Fachärzte, die Psychiater. Dann haben wir in Deutschland die Gruppe der psychologischen Psychotherapeuten, also Psychologen mit einer Spezialausbildung. Die dritte Gruppe sind die Hausärzte. Die meisten Patienten, die ambulant behandelt werden, werden vom Hausarzt behandelt.
ZDF: Was kann ich selbst tun, damit ich mich besser fühle?
Hegerl: Patienten können versuchen, bei sich selbst den Zusammenhang zwischen Bettzeit und Schlaf einerseits und Stimmung und Antrieb andererseits zu verstehen. Dann lernt man nämlich oft, dass lange Bettzeiten und auch Schlaf gar nicht zu Erholung führen, sondern die Depression verstärken und in der Winterdepression möglicherweise auch die Müdigkeit verstärken. Dann kann man mit seinem Arzt zum Beispiel auch besprechen, ob es Sinn ergibt, die Bettzeiten zu reduzieren.
Weiter ist Sport eine gute Idee. Sport macht müde, und gerade bei der typischen Depression ist alles, was müde macht, gut und wirkt antidepressiv. Dann kann man einen Wochenplan machen.
In der typischen Depression ist es so, dass die Menschen sich oft selbst überfordern, nur Pflichten haben und zu wenig an Erholung und Angenehmes in den Tagesablauf einplanen. Da kann so ein Plan hilfreich sein.
Prof. Dr. Ulrich Hegerl, Vorsitzender Deutsche Depressionshilfe

Ulrich Hegerl

Quelle: Katrin Lorenz
Ulrich Hegerl ist Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe. Seit 2019 ist er Professor an der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Goethe-Universität Frankfurt. Zuvor war er Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychosomatik in Leipzig. Außerdem ist er seit 2013 Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer.

Quelle: Deutsche Depressionshilfe

ZDF: Was hilft speziell bei der Winterdepression?
Hegerl: Bei der Winterdepression kann es helfen, sich am frühen Morgen vor eine Lichtlampe zu setzen. Das ist bei der Winterdepression besser belegt als bei der typischen Depression. Das wird in Kliniken manchmal angeboten. Diese Lichtlampen haben eine Lichtstärke, die nicht sehr anders ist als an einem hellen Wintertag.
Ich empfehle meinen Patienten oft eher, am Morgen aufzustehen und an die frische Luft zu gehen, statt sich eine Lichtlampe zu kaufen.
Das Interview führte Laura Alviz.

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