: Das Flüstern der Neuronen macht uns faul

von Gert Scobel
21.08.2022 | 09:27 Uhr
Unser Gehirn ist ein wahres Wunderwerk. Wir könnten alle Probleme der Welt lösen. Doch sind wir zu faul und lassen uns von den Neuronen alles Mögliche einflüstern?

In der Terra-X-Kolumne auf ZDFheute beschäftigen sich ZDF-Wissenschaftsjournalistinnen und -journalisten wie Harald Lesch, Mirko Drotschmann und Jasmina Neudecker sowie Gastexpert*innen jeden Sonntag mit großen Fragen der Wissenschaft - und welche Antworten die Forschung auf die Herausforderungen unserer Zeit bietet.
Wir leben im Zeitalter der Zauberlehrlinge. Beschwingt durch technologische Fortschritte träumen sie davon, Dinge, Daten und Doubles für sich arbeiten zu lassen.
Wir schaffen Systeme, die uns nicht nur helfen, sondern uns mit neuen Problemen plagen, die wir dann nicht mehr loswerden. Wir bauen immer bessere Waffen, um Kriege zu verhindern - und haben das Problem einer weltweiten atomaren Bedrohung. Wir schaffen Großindustrie und Giga-Landwirtschaft, um angenehmer und besser zu leben - und ernten Umweltvergiftung und Klimakatastrophe. Wir erfanden das Auto - und haben Verkehrskollaps, tausende Tote, Feinstaubbelastung, Verkehrsunfälle. So wird man feststellen: Alle Krisen der Gegenwart sind vernetzt.
Unsere Lösungsstrategie für alles lautet: mehr. Mehr Geld drucken. Mehr E-Autos. Mehr nachhaltigen Export. Mehr Strafen. Mehr Pendlerpauschale. Mehr Härte. Mehr soziale Rücksichtnahme. Mehr Wandel durch Handel. Und so weiter. Genau das ist eines der Kernprobleme unserer globalen Lebensweise.

Heute weiß schon ein Grundschulkind, warum unser Lifestyle die Erde gefährdet. Aber handeln wir inzwischen anders?

02.03.2022 | 07:08 min

Wir müssen uns selbst ändern

Warum? Ganz einfach. Weil es nicht wie in Goethes Gedicht den guten Zauberer gibt, der kommt und hilft; und auch nicht den Zauber, der alles löst. Womit wir bei der Einsicht wären, dass wir selbst uns ändern, transformieren müssen.
Damit ließe sich arbeiten, hätten wir nicht die fatale Neigung zu Ausreden. Eine der "besten" kommt aus einer ehemaligen Leitdisziplin der Wissenschaften: der Neuropessimismus, der beantwortet, warum es so kam, wie es kam, und warum wir im Grunde jetzt auch nichts tun können.

Klimakrise hängt mit unserer Entwicklungsgeschichte zusammen

Die Wunderwaffe Gehirn hat sich seit mehr als 30.000 Jahren nicht verändert. Die Forschung zeigte, dass alle unsere Vorfahren dazu neigten, sämtliche großen Tiere und viele Millionen der eigenen Artgenossen auszurotten und nebenbei blühende Landschaften und Wälder in Wüsten zu verwandeln. Schuld daran - unser Leitorgan, das Gehirn.
Auch die Klimakrise, in die wir hineingeraten sind, hängt mit unserer Entwicklungsgeschichte zusammen. Um es zeitgemäß zu formulieren: unser Gehirn hat nicht nur Falten, sondern auch einen Sprung.

Gehirn ist auf wenig Arbeitsaufwand programmiert

Tatsächlich sind wir faul und versuchen mit möglichst geringem Arbeitsaufwand durchzukommen. Warum? Weil unser Gehirn uns so programmiert. Wir sind die Spezies, die sich weltweit am erfolgreichsten in allen Umgebungen und Klimazonen behauptet, es schaffte, sich von 500 Millionen Exemplaren im Jahr 1650 auf heute acht Milliarden zu vermehren. Und wir sind die Spezies mit dem Holocaust, der Atombombe, dem Klimawandel …

Warum lassen sich menschengemachte Krisen nicht so einfach lösen, wie wir sie erschaffen haben? Hier das ganze Video zur Kolumne mit Gert Scobel.

04.08.2022 | 19:52 min
Ernsthaft: All das wegen unserer Gehirne?
Auch wenn Neuro-Argumentationen auf den ersten Blick verführerisch klug klingen: Bei genauerem Hinsehen reichen sie nicht aus, um zu erklären, wie wir Entscheidungen treffen und in realen sozialen Kontexten handeln.

Keine neurowissenschaftliche Theorie zu Wirtschaft oder Politik

Das wenigste, das mit Wirtschaft, Politik, Institutionen oder Verwaltung zu tun hat, lässt sich neurowissenschaftlich erklären. Wir verfügen weder über eine neurowissenschaftliche Theorie der Landwirtschaft oder Politik und nicht einmal über eine des Krieges.
Und wir vernichten nicht Fische in den Meeren, weil unsere Gehirne es uns einflüstern. Überfischung gibt es aus anderen Gründen. Wir vernichten die Umwelt nicht, weil unsere Dopamin-Lustmaschinerie im Gehirn so funktioniert.
Vielmehr handeln wir so, weil es eine Fisch- oder eine Fleischindustrie gibt, die ehrgeizige Ziele hat. Wir beuten all das auf unsere heutige Weise aus, weil es Firmen und eine Wirtschaftsstruktur gibt, die davon auf immense Weise profitieren und es verstehen, das Zusammenspiel mit unseren Schwächen in ihrem Sinn zu organisieren.

Kein Individuum allein verantwortlich

Es ist ebenso naiv, die Klimakrise allein auf die Entscheidung von Individuen zurückführen zu wollen, wie es falsch ist, die Entscheidung von Individuen allein auf die mehr oder minder einwandfreie Funktionsweise ihres Gehirns zurückzuführen. Politische Strukturen haben eine eigene Dynamik und können eine vom Gehirn des Einzelnen unabhängige Gewalt ausüben: zum Guten ebenso wie zum Schlechten.

Welche realen Chancen haben wir, den Planeten zu retten? Die NANO Doku „Öko-Chancen unter der Lupe“ zeigt, wie es gehen kann.

29.11.2019 | 28:43 min
Nein, nicht die Gehirne zerstören die Umwelt, sondern wir Menschen. Das ist schlecht für den Neuropessimismus, der doch eine so willkommene Entschuldigung böte. Es gibt keine deterministische und damit schicksalhafte Struktur, die uns dazu bringt, gar nicht anders zu können als den Planeten zu ruinieren.

Nicht das Gehirn trifft die Entscheidungen

Man kann die Geschichte der Menschheit, einschließlich der ihrer Gehirne, anders schreiben. Geschichte ist immer nur im Nachhinein zwingend und erscheint deterministisch und pessimistisch.
Wie wir an der nächsten Weggablung entscheiden, haben wir selbst in der Hand. Es gibt Menschen mit baugleichem Gehirn, die sich weder gewalttätig verhalten noch ihre Umwelt vernichten oder permanent Kriege führen. Ein Grund dafür wäre, dass ihre Gesellschaft intakter ist und weniger auf Ausbeutung, Lügen oder brutaler Herrschaft beruht. Keines unserer Gehirne hat eine angeborene Voreinstellung für eine bestimmte Wirtschafts- oder Gesellschaftsordnung.
Es kostet vielleicht große Kraft und großen Aufwand, aber es ist möglich, uns individuell wie kollektiv anders zu organisieren und anders zu leben. Neuropessimismus ist eine westliche Ideologie für Faule. Sich auf sie zu berufen ist nur eine von vielen Entscheidungen und keineswegs zwingend. Wir müssen nicht gehorchen. Weder einem angeblichen Diktat der Geschichte noch dem Geflüster der Neuronen.

Was ist das Geheimnis unserer Evolution, unseres Fühlens und Denkens? Was haben wir mit Schimpansen gemeinsam, was unterscheidet uns? "Terra X" ist dem "Rätsel Mensch" auf der Spur.

06.11.2016 | 43:28 min

Gert Scobel ...

... ist Philosoph, Wissenschafts- und Kulturjournalist sowie Moderator der 3sat-Sendungen "scobel" und "Buchzeit". Er beleuchtet und analysiert wissenschaftliche Diskurse. Besonders interessiert ist er an Aufklärung, Transformationsprozessen, der Förderung von Bewusstseinskultur und der Frage nach einer Ethik der Informatik, insbesondere der Künstlichen Intelligenz. Seit 2019 ist er mit "scobel" auch als Youtuber aktiv - und kann cat content nicht ausstehen.

Die letzten Ausgaben verpasst?

Auf unserer Themenseite können Sie alle Terra-X-Kolumnen nachlesen.

Mehr zu Terra X