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Zwei Männer in Bayern wegen mutmaßlicher Spionage für Russland festgenommen

: "Ich wollte, dass wir sichtbar werden"

von Jana Becker und Falk Soukup
05.06.2022 | 14:42 Uhr
Anni W. lebt von Hartz IV und findet, dass Lebenssituationen wie ihre fast nur statistisch erfasst werden. Deshalb hat Sie eine Initiative gestartet. Die Resonanz: Überwältigend.

Über 13 Millionen Menschen leben in Deutschland in Armut. Unter dem Hashtag #ichbinarmutsbetroffen wehren sich arme Menschen gegen Vorurteile.

03.06.2022 | 02:34 min
"Ich bin armutsbetroffen." Allein diesen Satz öffentlich auszusprechen, kostet Menschen, die von Armut betroffen sind, große Kraft. Dies dann in den Sozialen Netzwerken zu tun, wo in der Anonymität des Internets ohnehin der negative Kommentar als Reaktion auf jedwede Äußerung nicht weit entfernt scheint, benötigt es ein weiteres Maß an Überwindungskraft. Das könnte man zumindest annehmen.
Anni W., die in der Nähe des Niederrheins lebt, hat es gewagt. Ihre Wut und ihr Ärger über die öffentliche Wahrnehmung Armutsbetroffener wurde zu groß. Mitte Mai twittert sie unter ihrem Twitter-Namen @Finkulasa: "#IchBinArmutsbetroffen." Es folgt der Aufruf "Ich würde mich freuen, wenn ihr mitmacht." Die 39-jährige alleinerziehende Mutter möchte zeigen, "dass wir keine Zahlen sind" und meint damit andere User*innen, die ebenfalls von Armut betroffen sind.
Anni W. bei Twitter

Handy stand nach Tweet nicht mehr still

Die Reaktionen folgen prompt – ihr Handy steht schon am Abend nicht mehr still. Zahlreiche Twitter-Nutzer*innen erzählen ihre persönlichen Geschichten, andere zeigen Solidarität, selbst wenn sie selbst nicht betroffen sind. Anni W. bezieht Arbeitslosengeld II, umgangssprachlich bekannt als Hartz IV. Aus gesundheitlichen Gründen kann sie am Arbeitsleben aktuell nicht teilhaben und möchte aufräumen mit Klischees und Vorurteilen, die ihrer Meinung nach unter anderem Geringverdienenden oder Sozialhilfeempfänger*innen anhaften.
Anni W. bei einem Protest in Bochum - Anstoß für eine breite öffentliche Diskussion. Quelle: @Infozentrale
"Auf die Idee des Hashtags bin ich in einer WhatsApp-Gruppe gekommen, die wir mit ein paar Twitternden haben. Wir haben uns da zusammengefunden – alle armutsbetroffen", erzählt Anni W.
Wir haben uns über einen Artikel geärgert, der erschienen ist, in dem es darum ging, dass man wenn man Hartz IV bekommt und damit nicht auskäme, nur nicht mit Geld umgehen könne. Und das ist schlichtweg falsch.
Anni W., Gründerin der Initiative #IchBinArmutsbetroffen
Aus einzelnen Tweets entstanden persönliche Treffen, sogar öffentliche Proteste bundesweit.

Politik soll wachgerüttelt werden

Corona und die Inflation treffen armutsbetroffene Menschen in Deutschland besonders hart. Das Entlastungspaket der Bundesregierung bringt ihnen kaum Entlastung. Dass Hartz-IV-Beziehende bald eine Einmalzahlung in Höhe von 200 Euro erhalten sollen, fühlt sich für Anni W. an wie ein "Schlag ins Gesicht".
Der Politikwissenschaftler Prof. Christoph Butterwegge sieht Leistungsträger – in unserer Gesellschaft vor allem Unternehmer – stark unterstützt. "Diejenigen, die als nicht produktiv gelten, lässt man außen vor. […] Wenn sich inflationäre Tendenzen verfestigen, werden noch mehr Menschen in die Armutszone reingedrängt."
Die Armut breitet sich immer stärker auch in die Mitte der Gesellschaft hinein aus.
Christoph Butterwegge, Politikwissenschaftler

Bundesregierung und Bundestag haben ein milliardenschweres Entlastungspaket geschnürt, um die hohen Energie-Preise abzumildern. Doch Rentner*innen fühlen sich nicht genügend berücksichtigt.

13.05.2022 | 02:00 min
Die Initiative von Anni W. begrüßt der Kölner Politikwissenschaftler, da das Thema Armut so überhaupt erst einmal in die Öffentlichkeit und in die Gesellschaft hineingetragen werde. Diese Öffentlichkeit könne laut Prof Butterwegge dazu führen, dass folglich auch politisch Maßnahmen ergriffen würden, die in der Vergangenheit ausgeblieben sind.
Dass auf Ihre Initiative hin nachhaltige politische Maßnahmen folgen werden, hofft auch Anni W.. Die positiven Reaktionen online sind für sie, wie auch für viele andere Betroffene, nur ein Anfang.

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