Interview

: Jasmin Blunt: "Dieses Wort ist eine Waffe"

26.03.2023 | 08:03 Uhr
Die Ulmer Lehrerin Jasmin Blunt weigert sich, das Buch "Tauben im Gras" im Unterricht zu behandeln. Denn: Über hundert Mal kommt darin das N-Wort vor.
Zu rassistisch für den Unterricht? Über "Tauben im Gras" von Wolfang Koeppen ist eine Debatte entbrannt.Quelle: dpa/Christoph Schmidt
In Baden-Württemberg gibt es Streit um eine Abi-Pflichtlektüre. Ab nächstem Jahr soll dort an beruflichen Gymnasien der Roman "Tauben im Gras" von Wolfgang Koeppen aus dem Jahr 1951 Teil des Deutsch-Abiturs sein. Die Lehrerin Jasmin Blunt ist entschieden dagegen.
ZDFheute: Frau Blunt, Sie blättern die Abi-Lektüre "Tauben im Gras" das erste Mal durch - und dann?
Jasmin Blunt: Mich hat es wirklich getroffen. Ich dachte mir: Das kann nicht sein, dass das eine Lektüre ist, die man jetzt im Unterricht behandeln soll. Wenn ich mit dem N-Wort konfrontiert werde, dann hält für mich für einen Moment die Welt an. Ich fühle mich sofort hineingezogen in historische Kontexte und stelle meine Beziehungen zu anderen Menschen in Frage: Wie sehen die mich? Was ist eigentlich meine Rolle in der Gesellschaft? Und mir dann vorzustellen, dass schwarze Schülerinnen und Schüler all diese Emotionen und Gedanken im Unterricht aufarbeiten sollen - das war für mich unvorstellbar.

"Tauben im Gras" - darum geht es

"Tauben im Gras" von Wolfgang Koeppen (1906-1966) erschien im Jahr 1951 und ist der erste Roman aus einer Nachkriegstrilogie. Darin erzählt der Autor vom Klima der jungen Adenauer-Republik und thematisiert auch, dass viele zu dieser Zeit Fragen der Schuld verdrängten. Die Geschichte spielt in einer deutschen Großstadt, hier treffen viele verschiedene Protagonisten aufeinander - darunter auch schwarze amerikanische Soldaten, die von anderen Figuren immer wieder rassistisch beleidigt werden. Insgesamt über hundert Mal kommen in "Tauben im Gras" verschiedene Formen des N-Wortes vor.

Das sagt das Kultusministerium

Baden-Württembergs Kultusministerin Theresa Schopper hält an der Pflichtlektüre fest. Sie werde in manchen Schulen schon behandelt, sagte die Grünen-Politiker der "Südwest Presse". "Es geht darum, deutlich zu machen, wie Rassismus Gesellschaften prägt: damals in den 50er Jahren, als der Roman entstanden ist, aber auch heute. Das zu behandeln, finde ich sehr wichtig", so Schopper weiter. Der verstorbene Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki habe diesen Roman als Weltliteratur gewürdigt und die "Süddeutsche Zeitung" habe ihn in ihre Bibliothek aufgenommen. Schopper erklärte, dass Einordnung bei diesem Werk besonders wichtig sei. "Deswegen unterstützen wir die Lehrkräfte auch mit vielen Fortbildungen und Materialien", sagte sie. Es sei zwingend notwendig, bevor dieses Buch im Unterricht gelesen und behandelt werde, sehr genau über die Sprache des Textes zu reden. "Denn in dieser Sprache wird ganz klar Rassismus transportiert."
ZDFheute: Was löst dieses Wort bei Ihnen aus?
Blunt: Das N-Wort ist nicht neutral. Es bedeutete schon immer, dass man Menschen ausgrenzt, sie entmenschlicht und ihnen die Menschenrechte abspricht. Und das fühlt man bis heute. Dieses Wort ist eine Waffe und Rassismus kann man nicht aufarbeiten, indem man rassistische Sprache in den Unterricht hineinbringt. 
Jasmin BluntQuelle: ZDF
ZDFheute: Dabei gilt Wolfgang Koeppens "Tauben im Gras" sogar als rassismuskritisch und ist als wichtiges Werk der Nachkriegsliteratur bekannt.
Blunt: Ja, das ist eine Perspektive auf diesen Roman. Klar, lassen sich daraus vielleicht auch wichtige Inhalte ziehen. Aber es gibt auch andere Werke, mit denen man wahnsinnig gut Rassismus aufarbeiten kann - ohne, dass man eine Gruppe dehumanisiert. Wenn man Unterricht für alle machen möchte, dann muss man auch diese Perspektive berücksichtigen.
ZDFheute: "Tauben im Gras" war auch in der Vergangenheit schon Abi-Lektüre. Warum hat sich bisher niemand daran gestört?
Blunt: In einer Gruppe, in der die meisten Menschen zur Mehrheitsgesellschaft gehören, trauen sich Betroffene oft nicht zu sagen: Das verletzt mich und ich möchte das nicht. Die Schülerinnen und Schüler werden sich nicht melden und sagen: Ich kann es nicht ertragen, dass mir hier während der Besprechung sechs Wochen lang das N-Wort vorgelesen wird. Wie soll man handeln als Betroffener?
Man muss sich darauf verlassen, dass die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft einen anhören und ernst nehmen. Aus einer weißen Perspektive betrachtet, macht einem das Wort absolut nichts. Das kann ich auch verstehen. Aber es wird Zeit, dass man die Sicht von Betroffenen mit einbezieht. Das ist die Aufgabe des Kultusministeriums: Dafür zu sorgen, dass Unterrichtsmaterialien diskriminierungsfrei sind. Schwarze Lehrerinnen und Lehrer existieren. Genauso wie schwarze Schülerinnen und Schüler.

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ZDFheute: Sollte man Koeppens "Tauben im Gras" jetzt also nicht mehr lesen?
Blunt: Wer sich privat mit diesem Buch auseinandersetzen möchte, soll es wirklich gerne machen. Nur darf das auf keinen Fall unter Zwang geschehen, wenn diejenigen, die hier rassistisch angesprochen werden, anwesend sind. Das muss nicht sein im Unterricht. Es darf nicht sein. Der Unterricht ist ein schützenswerter Raum. Wieso sollte ich da willentlich Menschen diese emotionale Gewalt antun?
ZDFheute: Die baden-württembergische Kultusministerin Theresa Schopper räumt ein, Koeppens Sprache sei rassistisch. Dies werde aber eingeordnet - das Werk sei gut geeignet, um im Unterricht über Rassismus zu sprechen. Was bedeutet das für Sie?
Blunt: Dass ich mir ganz genau überlegen muss, ob ich für eine Institution arbeiten kann, die mich nicht ernst nimmt. Ich möchte gerne, dass Frau Schopper mir konkret sagt, was sie denkt, wie ich mit diesem Buch umgehen soll. Ob sie tatsächlich für mich bestimmen kann, wie ich mich fühle oder wie meine Gruppe sich dabei fühlt, wenn dieses Buch im Unterricht besprochen wird. 

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ZDFheute: Sie wollen sich im nächsten Schuljahr beurlauben lassen?
Blunt: Ich bin für das nächste Jahr auf persönlichen Wunsch hin unvergütet beurlaubt, ja, weil mir seitens des Kultusministeriums der Respekt, das Verständnis und der Wille zur Veränderung fehlt.
ZDFheute: Sie haben eine Petition gestartet und fordern, dass "Tauben im Gras" aus dem Pflichtlektürekanon gestrichen wird. Was erhoffen Sie sich?
Blunt: Ich hoffe, dass andere schwarze Menschen jetzt auch in ihre Rolle finden, sich emanzipieren und ihr Mitspracherecht einfordern. Und die Gesellschaft ist ja auch an einem Punkt, wo dem mit sehr viel Offenheit begegnet wird. An dem viele Menschen anerkennen, dass Sprache tatsächlich verletzend sein kann und sich dagegen entscheiden, solche Worte zu verwenden.
Selbst wenn es jetzt nichts ändert - ich hoffe, dass es für die Zukunft etwas bringt. Dass man in Zukunft genauer hinschaut und alle Schülerinnen und Schüler in den Blick nimmt. Mit der Aussage des Kultusministeriums - man könne mit diesem Buch ganz toll Rassismus behandeln - ist es eben nicht getan. Ich lebe ja dieses Leben. Und schwarze Schülerinnen und Schüler leben dieses Leben auch.
ZDFheute: Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führten Petra Otto und Anna Gürth aus dem ZDF Landesstudio Baden-Württemberg.

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