: USA: Stets auf der Seite des "Guten"?

von Mirko Drotschmann
30.10.2022 | 07:34 Uhr
Die USA gerieren sich gern als Bollwerk für Freiheit und Demokratie. Eine weiße Weste hat das Land historisch gesehen allerdings nicht.

In der Terra-X-Kolumne auf ZDFheute beschäftigen sich ZDF-Wissenschaftsjournalistinnen und -journalisten wie Harald Lesch, Mirko Drotschmann und Jasmina Neudecker sowie Gastexpert*innen jeden Sonntag mit großen Fragen der Wissenschaft - und welche Antworten die Forschung auf die Herausforderungen unserer Zeit bietet.
US-Präsident Joe Biden ist ein Mann der ganz großen Worte. Dort, wo sein Vorgänger Donald Trump in staccatohaften Hauptsätzen Wörter wie "great" und "big" in wechselnder Abfolge aneinanderreihte, packt Biden gerne die rhetorische Bazooka aus. "Fürchtet euch nicht", rief er bedeutungsschwanger im März in Warschau den Menschen angesichts der Bedrohung durch den russischen Angriff auf die Ukraine zu. Und dann: "Wir sind aus dem großen Kampf für die Freiheit neu erwachsen: dem Kampf (…) zwischen einer regelbasierten Ordnung und einer Ordnung, die von roher Gewalt beherrscht wird."

Mirko Drotschmann ...

... ist Historiker und Journalist. Für Terra X erklärt er im TV historische Zusammenhänge und im Internet die Welt. Auf Youtube ist er bekannt als MrWissen2Go Geschichte und auch auf Instagram sorgt er für die tägliche Dosis an historischem Wissen. Außerdem ist er eingefleischter KSC-Fan.

Botschaft: Wo die USA sind, ist Freiheit

Die Botschaft: Wo die USA sind, ist Freiheit. Das ist seit Jahrzehnten das Selbstverständnis der Vereinigten Staaten, über alle Parteigrenzen hinweg. Eigenes Fehlverhalten? Kein großes Thema.
In einer Zeit, in der sich die USA angesichts der russischen Aggressionen allzu gerne als Bollwerk der Freiheit und Demokratie gerieren, darf man den Blick aber auch auf die weniger ruhmreichen Kapitel Amerikas richten - und über die Dinge sprechen, die in den Reden von US-Präsidenten kaum auftauchen und die das Bild von den "ordentlichen" Staaten wieder etwas geraderücken.

Liste "militärischer Operationen" ist Katalog des Grauens

Einen guten Überblick bietet hier, wieder einmal, Wikipedia. Dort findet sich eine Liste "militärischer Operationen", an denen die USA bis heute beteiligt gewesen sind. Was sich auf den ersten Blick harmlos liest, ist auf den zweiten Blick ein Katalog des Grauens: Regime Changes, Stellvertreterkriege und direkte Angriffe.

Die USA hatten viele große Präsidenten, manche fielen aber auch durch Korruption, Rechtsbruch oder schlicht Dummheit auf. Wir blicken auf die Flops im Weißen Haus.

22.10.2020 | 14:39 min
Dabei tauchen Namen und Daten auf, die vor dem geistigen Auge sofort schreckliche Bilder aufscheinen lassen: Kinder, die weinend aus einem brennenden Dorf in Vietnam flüchten. Eine afghanische Hochzeit, die im Bombenhagel ein Ende findet. Verstümmelte Kriegsopfer aus dem Irak.

USA: selbsternannter "Weltpolizist"

Der selbsternannte "Weltpolizist" war vor allem im 20. Jahrhundert auch Aggressor, Manipulator, Angreifer. Die Methoden und Ziele haben sich dabei über die Jahrzehnte hinweg verändert. Nicht aber der Habitus, auf der Seite der "Guten" zu stehen.
Wer die "Bösen" sind, war und ist für die Vereinigten Staaten dabei stets klar. Es gilt das Prinzip: Bist du nicht für uns, bist du gegen uns. So hat der US-amerikanische Geheimdienst CIA seit den 1950er-Jahren in einer Reihe von Missionen immer wieder versucht, legitime Regierungen in anderen Ländern zu stürzen, um zu verhindern, dass diese sich zu sehr dem sowjetischen Erzfeind annähern. Zum Beispiel in der Dominikanischen Republik, in Costa Rica oder Chile. Und auch der Zugriff auf Öl ist ein beliebtes Motiv in der US-amerikanischen Interventionshistorie - denken wir an den gesteuerten Putsch im Iran.

Hunderttausende Tote im Vietnam-Krieg

Besonders im kollektiven Gedächtnis haften geblieben ist sicher die katastrophale Einmischung in den vietnamesischen Bürgerkrieg. Bis zur schmachvollen Niederlage 1975 sterben auf beiden Seiten insgesamt rund 350.000 Zivilisten. Knapp 900.000 Soldaten kommen ums Leben.
Gewonnen wurde nichts, verloren viel - vor allem internationales Ansehen, das seitdem nie wieder vollständig hergestellt werden konnte. Ähnlich sieht es zum Beispiel mit von den USA angeführten Interventionen im Irak und in Afghanistan aus.

Territoriale Unversehrtheit wurde "locker" ausgelegt

Dabei schuf Ende der 1920er Jahre der damaligen US-Außenminister Frank Kellogg die Grundlage für das Prinzip der "territorialen Unversehrtheit" - in den "Pariser Verträgen", gemeinsam mit seinem französischen Amtskollegen. Diese wurde 1945 durch die Charta der Vereinten Nationen noch einmal unterstrichen: Kein Staat darf einem anderen Staat Gewalt androhen oder gegen ihn anwenden. So steht es in Artikel 2. Ein Artikel, den die USA seit 1945 immer wieder "locker" ausgelegt haben.
Sicher: Es hat sich etwas getan im Land. Aber dennoch hält sich ein Selbstverständnis, das die USA auch im Jahr 2022 nicht abgelegt zu haben scheinen: Wen sie für gefährlich halten, der hat ein Problem.

"Bush-Doktrin" gilt bis heute

Hintergrund dafür ist die im September 2002 erlassene "Bush-Doktrin". Der Inhalt ist, vereinfacht gesagt: Wenn ein Land sich gegen den Willen der USA atomar, biologisch oder chemisch bewaffnen will, behalten sich die Vereinigten Staaten das Recht vor, dieses Land anzugreifen. Der bloße Verdacht reicht aus. Diese Doktrin gilt, nur leicht verändert, bis heute. Auch unter Präsident Joe Biden.
Die USA sind also alles andere als der lupenreine "good guy", der Russland moralisch überlegen ist. Selbstreflexion ist hier Mangelware. Wer in Diskussionen darauf verweist, hat nicht Unrecht.
Allerdings kann all das eines niemals sein: eine Rechtfertigung für die Aggressionen anderer, nach dem Motto "Aber die USA haben ja auch…". Denn diese Argumentationslinie befördert uns ganz schnell zurück ins Kindergartenalter - und bietet Nährboden für weitere Konflikte.

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