: Bergkarabach: Die Lage wird schlimmer

von Nina Niebergall
05.02.2023 | 13:50 Uhr
Seit Dezember wird Bergkarabach von Aserbaidschanern blockiert. 120.000 Menschen kommen nicht raus - und ihre Familienangehörigen nicht mehr rein. Für viele eine Belastungsprobe.
Ein Junge schaut auf eine Kerze, um sich zu Hause in Stepanakert, der Hauptstadt der Region Bergkarabach, zu wärmen.Quelle: Edgar Harutyunyan/PAN Photo/AP/dpa
Wenn Hayk Ohanyan sich am frühen Morgen in Stepanakert in eine der vielen Schlangen einreiht, die sich vor den Supermärkten und Gemüseläden bilden, muss er hoffen, dass er überhaupt Essen bekommt. Seit einigen Tagen werden in Bergkarabach Lebensmittel rationiert, Essensmarken ausgegeben.

Lebensmittel, Medikamente, Hygieneartikel sind knapp

Hayk lebt in Stepanakert, der Hauptstadt der selbsternannten Republik. Er ist 35 und hat selbst keine Erinnerungen an die Sowjetunion. Aber so muss es wohl früher gewesen sein, glaubt er, als wegen Sozialismus und Mangelwirtschaft schon all die Regale leer waren. "Wir spüren den Mangel überall", erzählt Hayk.
Sogar gewöhnlicher Tee, Kaffee, Zigaretten sind Mangelware. Die Menschen stehen seit dem Morgen an, um gewöhnliche Eier zu kaufen.
Hayk Ohanyan
Zum Glück habe er ein paar Lebensmittelvorräte angelegt, als die Blockade losging. Aber inzwischen sei es schwierig, seinen zweijährigen Sohn zu versorgen. "Es gibt keine Windeln in Apotheken, keine Babynahrung." 120.000 Menschen sind in Bergkarabach eingeschlossen, darunter 30.000 Kinder. Immer wieder kappt Aserbaidschan auch die Strom- und Gasversorgung.
An normalen Tagen kamen früher Tausende Lastwägen aus Armenien mit Lebensmitteln und anderen Produkten. Jetzt kommen nur noch ganz selten Lieferungen vom Roten Kreuz.
Hayk Ohanyan
Nur wenige Menschen kommen raus, fast niemand rein. So wie Hayks Frau Ramella. Sie ist kurz vor der Blockade nach Armenien gefahren, um ihre kranke Mutter zu versorgen. Und sitzt mehr als sieben Wochen dort fest.

Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan

Die Blockade ist das jüngste Kapitel in einem jahrzehntealten Konflikt. Immer wieder gab es Kriege um Bergkarabach, das völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört, aber mehrheitlich von Armeniern bewohnt wird. Seit dem Krieg vor zweieinhalb Jahren führt nur der schmale Latschin-Korridor von Armenien nach Bergkarabach.
Der wird seit Dezember blockiert. Von Umweltaktivisten, behauptet Aserbaidschan, die gegen vermeintliche Verstöße im Bergbau protestierten. Eine Darstellung, die Armenien und auch die USA absurd finden.

Die Geschichte Bergkarabachs

Quelle: ZDF
Der Konflikt um Bergkarabach ist Jahrzehnte alt. Das weitgehend von Armeniern besiedelte Gebiet unterstand einst armenischen Fürsten, ehe es Anfang des 19. Jahrhunderts an das russische Zarenreich fiel. Mit Gründung der Sowjetunion wurde das Gebiet aufgeteilt. 1923 fiel ein Teil an die aserbaidschanische Sowjetrepublik, das Kernland wurde ein autonomer Bezirk.

1988 stellte das Gebiet den Antrag, von der Unionsrepublik Aserbaidschan zur Unionsrepublik Armenien zu wechseln. Nach Zerfall der Sowjetunion wurde 1992 die Republik Bergkarabach ausgerufen. Sie ist allerdings diplomatisch von keinem Staat anerkannt - auch nicht von Armenien.

Seitdem gibt es immer wieder blutige Kämpfe mit inzwischen mehreren Zehntausend Toten. Beide Seiten werfen sich Völkermord vor. 2020 kam es erneut zu einem Krieg um die Region, in dessen Folge Aserbaidschan die Kontrolle über weitere Teile gewann. Und im September 2022 hat Aserbaidschan armenisches Kernland angegriffen - mit mehr als 200 Toten auf armenischer Seite und dokumentierten Kriegsverbrechen.

Vorwurf: "Ethnische Säuberungen"

Armenien schaltete zuletzt den Internationalen Strafgerichtshof ein. Der armenische Rechtsvertreter, Jeghische Kirakosjan, warf Aserbaidschan "ethnische Säuberung" vor. Der stellvertretende Außenminister von Aserbaidschan, Elnur Mammadow, wies das von sich. Armenien ermutige mit seinen Vorwürfen zu "Hass und Angst vor Aserbaidschan und Aserbaidschanern".
Der Staatsminister von Bergkarabach appelliert an die internationale Gemeinschaft, sich in den Konflikt einzuschalten. Auch er deutet im ZDF-Interview an, Aserbaidschan wolle offenbar ein Bergkarabach ohne Armenier. Er fordert eine friedliche Lösung.
Der Weg, den Aserbaidschan grade anbietet - nämlich ein Bergkarabach ohne Armenier - das ist eine Sackgasse. Die könnte dazu führen, dass das Kriegspendel in die andere Richtung ausschlagen wird.
Ruben Wardanjan, Staatsminister Bergkarabach

Schutzmacht Russland unternimmt kaum etwas

Doch den Menschen in Armenien fehlt es an Verbündeten. Die einstige Schutzmacht Russland soll eigentlich den Zugang zu Bergkarabach gewährleisten. Gegen die aserbaidschanische Blockade unternimmt Moskau bislang allerdings kaum etwas.

Bis heute erheben Armenien und Aserbaidschan Anspruch auf Bergkarabach. 2020 bricht erneut ein Krieg aus. Mittlerweile kontrolliert Russland die Region und profitiert vom Konflikt.

08.09.2022 | 44:38 min
Die EU hat zuletzt eine Beobachtermission beschlossen, die in die armenisch-aserbaidschanische Grenzregion entsandt werden soll. Aber dass die Friedensverhandlungen bald fortgesetzt werden - danach sieht es momentan nicht aus. "Wir wollen dort leben, weil mein Großvater, meine Großmutter von dort stammen. Auch mein Vater, mein Mann, mein Bruder", sagt Hayks Frau Ramella Ghazaryan.
Sie alle haben in Kriegen für dieses Land gekämpft, wie können wir es da verlassen?!
Ramella Ghazaryan
Immerhin: Sie kann Ende Januar endlich zurück nach Hause. Einer der wenigen Konvois vom Roten Kreuz nimmt sie und ihre kranke Mutter mit. Obwohl sie in Bergkarabach nur schwer Medikamente und gesunde Lebensmittel finden werden, stand für sie außer Frage, dass sie zurückkehren. Sie wollen sich nicht vertreiben lassen.
Nina Niebergall berichtet als Korrespondentin über Russland, Zentralasien und die Kaukasusregion.

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