: Armutsforscher entsetzt über "Reformruine"

23.11.2022 | 12:00 Uhr
Armutsforscher Christoph Butterwegge übt scharfe Kritik an dem Bürgergeld-Kompromiss zwischen Regierung und Union. Die Einigung habe das Vorhaben zu einer "Reformruine" gemacht.
Warteschlange von Arbeitssuchenden vor einem JobcenterQuelle: imago
Währenddessen Bundeskanzler Olaf Scholz in der Generaldebatte "froh" über die Einigung mit der Union zeigt, beschreibt Armutsforscher Christoph Butterwegge den Bürgergeld-Kompromiss zwischen Regierung und Opposition als "Reformruine".

Armutsforscher Butterwegge: Bürgergeld wird zur "Reformruine"

Der Politikwissenschaftler und Armutsforscher Christoph Butterwegge hält die Bürgergeld-Reform durch den Kompromiss mit der Union für gescheitert. Zwar gäbe es nach dem Kompromiss einige Verbesserungen und Erleichterungen für Transferleistungsempfänger, diese würden allerdings nur den "Neukunden der Jobcenter" zu Gute kommen. "Weit über zwei Drittel der jetzigen Hartz-IV-Bezieher" würden davon aber nichts spüren, da sie "viel zu lange im Bezug" seien, so Butterwegge.
Hartz IV wird mit Einführung des Bürgergeldes nicht, wie von SPD und Grünen versprochen, überwunden, sondern nur etwas abgeschwächt.
Christoph Butterwegge, Armutsforscher

Christoph Butterwegge …

Quelle: Karlheinz Schindler/dpa-Zentralbild/dpa/Archivbild
… erforscht seit Jahrzehnten wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland. Bis 2016 lehrte der Politikwissenschaftler als Professor an der Universität Köln. Das Problem wachsender Ungleichheit bezeichnet Butterwegge als "das Kardinalproblem unserer Gesellschaft, wenn nicht der gesamten Menschheit". Der Kölner ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen zum Thema "Armut und soziale Ungleichheit"; sein aktuelles Sachbuch trägt den Titel "Die polarisierende Pandemie. Deutschland nach Corona".
"Außerdem haben Gutqualifizierte einen Vorteil, die ich zur Laufkundschaft der Jobcenter zähle", so der Armutsforscher. Er ist der Meinung, für Langzeitarbeitslose werde durch die Einführung des Bürgergeldes nur wenig getan. Sein Fazit:
Aus der 'größten Sozialreform seit 20 Jahren' (Hubertus Heil) wurde eine Reformruine, die Betroffene 'Bürgerhartz' nennen.
Christoph Butterwegge, Armutsforscher

Kanzler Scholz begrüßt Bürgergeld-Kompromiss

Bundeskanzler Olaf Scholz verteidigt die Einigung zwischen den Ampel-Parteien und der Union zum Bürgergeld hingegen. In der Generaldebatte im Bundestag sagte er:
Ich bin froh, dass wir hierzu eine einvernehmliche Lösung gefunden haben - eine gute übrigens.
Olaf Scholz, Bundeskanzler
Es gehe "um Wege raus aus der Langzeitarbeitslosigkeit, raus aus Hilfsjobs und hinein in den Arbeitsmarkt". Deshalb seien "bessere Beratung, Aus- und Weiterbildung sowie weniger Bürokratie ganz entscheidende Bestandteile" der Reform.

Kompromiss: Breite Zustimmung in der SPD

Der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil zeigte sich am Mittwoch ebenfalls zuversichtlich. Das Bürgergeld führe einen "wirklichen Kulturwandel" herbei, sagte er in einer RTL/ntv-Sendung.
Wir sorgen für wirkliche Qualifizierung, und wir bekämpfen damit auch den Fachkräftemangel, den es in Deutschland gibt. Das ist eine wirkliche Veränderung im System.
Lars Klingbeil, SPD-Vorsitzender

Und auch SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert verteidigt den Kompromiss in der ARD als Erfolg: "Es ist ein Kulturwechsel in den Jobcentern selbst und zwar weg von dem Zwang für die Jobcenter, in den nächstbesten Job oder in irgendeine Maßnahme zu vermitteln, damit die Leute schnell aus der Statistik raus sind."

Bürgergeld: Scholz kritisiert CDU

Kanzler Olaf Scholz kritisierte allerdings den langen Widerstand der Union gegen die Reform. Dabei habe diese während der Corona-Pandemie mitgetragen, dass Arbeitnehmer und Selbstständige massive staatliche Hilfe bekommen hätten, sagte der Kanzler. "Ihnen nicht gleich alles Ersparte oder die Wohnung zu nehmen - das hat uns damals allen eingeleuchtet."

Der Bürgergeld-Kompromiss

Die Ampel-Parteien und die Union hatten sich am Dienstag auf einen Kompromiss beim Bürgergeld als Ersatz für das bisherige Hartz-IV-System geeinigt.

Die verkündete Vorab-Einigung sieht in zentralen Punkten Zugeständnisse an die Union vor. Anders als von den Regierungsfraktionen geplant sind nun Sanktionen durch die Arbeitsagenturen bei Pflichtverletzungen sofort umfassend möglich, das Schonvermögen für Bürgergeld-Bezieher wurde zudem deutlich reduziert.

Am Mittwochabend musste nun noch der Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat den Kompromiss billigen. Nach der Zustimmung der beiden Parlamentskammern kann das Bürgergeld zum 1. Januar in Kraft treten.

Bei Langzeitarbeitslosen sehen das die Union und ihr Fraktionschef Friedrich Merz (CDU) aber offenbar anders, sagte Scholz. Was Koalition und Union vor allem unterscheide sei "ganz offenbar das Bild, das wir von den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes haben."

Lediglich einer äußert leise Zweifel

Der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Thorsten Frei verbuchte den Wegfall der von der Ampel vorgeschlagenen Schonfrist von einem halben Jahr als Erfolg. "Für uns war entscheidend, dass das Grundprinzip von Fördern und Fordern erhalten bleibt." Da hätten sich CDU/CSU durchsetzen können.
Die Knackpunkte, die für uns dazu geführt haben, dass wir bisher das Gesetz ablehnen mussten, die sind jetzt beseitigt. Und deswegen kann es auch zu einer Verständigung kommen,
Thorsten Frei, Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
Lediglich der Chef des CDU-Arbeitnehmerflügels, Nordrhein-Westfalens Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann, äußerte Zweifel, ob mit dem Bürgergeld eine bessere Vermittlung von Langzeitarbeitslosen gelingt.
Das Gesetz sei eine "gute Grundlage", sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Er fürchte jedoch, "dass die Angestellten in den Jobcentern nicht genug Ressourcen haben werden, den Geist des Gesetzes auch umzusetzen".
Quelle: dpa, AFP, Reuters

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