: Wie lange kann Russland Cherson noch halten?

von Christian Mölling und András Rácz
19.10.2022 | 22:26 Uhr
Die russischen Behörden in Cherson bereiten sich auf eine Rückeroberung durch die Ukraine vor. Die Besatzer haben begonnen, Zivilisten und Verwaltungseinrichtungen zu verlegen.
Russische Soldaten in Cherson (Archivbild)Quelle: dpa
Seit Kurzem weisen russische Besatzungsbehörden auf einen bevorstehenden ukrainischen Rückeroberungsversuch auf die Stadt Cherson und den übrigen westlichen Teil der Region am rechten Ufer des Dnipro hin.
Allerdings veröffentlichen die ukrainischen Streitkräfte aktuell keine Informationen über ihre Aktivitäten in der Region, so dass es nicht möglich ist zu überprüfen, ob ein Angriff bevorsteht. Vieles deutet jedoch darauf hin, dass die Besatzungstruppen ernsthaft damit rechnen und dass sie nicht sicher sind, ob sie die Hauptstadt und Region halten können.

Russland will Zivilisten auf andere Flussseite verlegen

Der von Russland ernannte Gouverneur der besetzten Region kündigte am Mittwoch den Plan an, 50.000 bis 60.000 Zivilisten aus den noch von Russland besetzten Bezirken Chersons auf die andere Seite des Dnipro zu verlegen - zusammen mit allen Einheiten der lokalen Verwaltung.
Der durch die Besatzer ernannte stellvertretende Bürgermeister, Kirill Stremousov, versprach, dass die russischen Streitkräfte Cherson in "eine Festung verwandeln und die Stadt bis zum Ende verteidigen würden".

Kommt es zum Häuserkampf?

Allerdings deutete der Befehlshaber der in der Ukraine kämpfenden, russischen Streitkräfte, General Sergej Surowikin, an, dass die Lage in der Region kompliziert sei - und es notwendig werden könnte, "schwierige Entscheidungen zu treffen". Einzelheiten nannte er nicht.
Diese Aussagen können als Hinweis gewertet werden, dass sich die russischen Behörden auf eine Belagerung Chersons vorbereiten und offenbar planen, die Rückeroberung der Stadt im sogenannten Häuserkampf zu verhindern.

Christian Mölling ...

Quelle: ZDF/Svea Pietschmann
... ist seit Februar 2017 stellvertretender Direktor des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Er beschäftigt sich unter anderem mit der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik von EU und Nato.

András Rácz...

Quelle: DGAP
... ist Experte für Mittel- und Osteuropa, Russland und Zentralasien bei der Deutschen Gesellschaft für Außenpolitik (DGAP). Zuvor war der Politologe außerordentlicher Professor an der Péter-Pázmány-Universität in Budapest und Mitarbeiter des Estnischen Instituts für Außenpolitik in Tallinn.

Quelle: DGAP

Russische Durchhaltefähigkeit fraglich

Angesichts der anhaltenden und äußerst erfolgreichen Angriffe der Ukraine auf die Kommunikations- und Nachschublinien der russischen Armee im Westen der Region bleibt es jedoch fraglich, wie lange die russischen Truppen tatsächlich in der Lage - und gewillt - sind, die Stadt zu halten.
Wahrscheinlich werden die ukrainischen Truppen über Berislaw, entlang des Flusses Dnipro, vorrücken. Sollte der Ukraine dort ein Durchbruch gelingen, wäre die Straßenbrücke bei Nowa Kachowka, der letzte mehr oder weniger funktionierende Flussübergang, für die russischen Streitkräfte nicht mehr zu halten.
Außerdem gibt es südlich von Berislaw kaum noch befestigte russische Stellungen. Die ukrainischen Truppen könnten also sehr viel näher an die Stadt Cherson herankommen, möglicherweise sogar schon in Reichweite von noch leichteren Artilleriesystemen.

Zwangsmöglichkeiten gegen die Bevölkerung erhöht

Am Mittwoch wurde nach einer außerordentlichen Sitzung des russischen Nationalen Sicherheitsrates bekannt gegeben, dass Russland in den vier annektierten Regionen, Cherson, Saporischschja, Donezk und Luhansk, das "Kriegsrecht" ausruft. Der Föderationsrat hat den Beschluss bereits gebilligt, der am Donnerstag in Kraft treten wird.
Dadurch ermöglicht der Kreml den russischen Besatzern formell, alle Teile der Bevölkerung zwangsweise zu mobilisieren und sie in den Kampf gegen ukrainische Truppen zu schicken. Dies ist bereits in Donezk und Luhansk geschehen. Voraussichtlich wird dies auch in den Regionen Cherson und Saporischschja nun der Fall sein.
Außerdem ist es im Kriegszustand rechtlich einfacher, Eigentum zu verstaatlichen und die örtliche Zivilbevölkerung umzusiedeln, sollten militärische Interessen dies erfordern. Mit anderen Worten: Dadurch wird erleichtert, alle Ressourcen der betroffenen Gebiete für die Zwecke des Krieges zu nutzen.
In Anbetracht der Lage in der Region Cherson ist es sehr wahrscheinlich, dass die russischen Besatzungsbehörden unmittelbar nach Inkrafttreten des Kriegszustands von diesem Gebrauch machen werden.
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