: Der Protest der weißen Blätter

von Miriam Steimer
27.11.2022 | 09:07 Uhr
In vielen Städten Chinas protestieren Menschen gerade gegen Xi Jinpings Null-Covid-Politik – und fordern sogar seinen Rücktritt. Meinungen in einem Land ohne Meinungsfreiheit.
"Kommunistische Partei" - "Tritt zurück!" "Xi Jinping" - "Tritt zurück!" Diese Sprechchöre waren in der Nacht in den Straßen von Shanghai zu hören. In vielen Städten im ganzen Land gehen gerade Menschen auf die Straße. Was als Protest gegen die strengen Corona-Maßnahmen begann, weitet sich aus zum Protest gegen die kommunistische Führung. Das ist besonders bemerkenswert in einem Land ohne Meinungsfreiheit, in dem sich viele noch nicht einmal trauen, den Namen von Staats-Chef Xi Jinping auszusprechen.
"Du weißt, was ich sagen will!" Das steht auf dem Schild, das ein Mann vor einem Kaufhaus in Shanghai in die Höhe hält. Auf vielen Videos, die auf den chinesischen Plattformen gepostet und meist genauso schnell von der staatlichen Zensur wieder gelöscht werden, halten Menschen leere DinA-4-Blätter in die Höhe.
Sie werden zum Symbol der Proteste. Wenn etwas darauf stünde, wäre das als Polizei-Beweis noch gefährlicher als es sowieso schon ist, in China auf die Straße zu gehen um zu protestieren. Außerdem ist es nicht nötig: Alle wissen, worum es geht.

Studierende protestieren an Tsinghua-Uni

In Peking haben sich Bewohnerinnen und Bewohner verschiedener Wohnblocks erfolgreich gegen Lockdowns gewehrt. Angesicht der Rekord-Infizierten-Zahlen scheinen die Behörden mit den offiziellen Anweisungen nicht hinterher zu kommen. Nach Angaben der Nationalen Gesundheitskommission hat das Land mit mehr als 39.000 neuen Corona-Infizierten binnen Tagesfrist den Rekord-Wert der Vortage weiter überboten. Dennoch hält die Staatsführung weiter stur an ihrer Null-Covid-Politik fest und will jeden einzelnen Ausbruch mit strengen Maßnahmen bekämpfen.
"Demokratie, Rechtstaatlichkeit, Redefreiheit", ruft die Menge. Das Video soll aus der Tsinghua-Universität stammen, einer der renommiertesten Unis in China. Wegen strenger Corona-Regeln dürfen die Studierenden den Campus nicht verlassen – und von außen keiner rein.
Augenzeugen bestätigen, dass sich dort mehrere hundert Studierende versammelt haben. Vor der Mensa hielten sie leere Blätter hoch und sangen die chinesische Nationalhymne und die "Internationale", Kampflied der sozialistischen Arbeiterbewegung.

Sturm der Entrüstung nach Brand mit mehreren Toten

Eine der Orte in Shanghai, an denen die Proteste in der Nacht begannen, war eine Straße, die nach der Stadt Ürümqi in der Provinz Xinjiang im Nordwesten Chinas benannt ist. Dort waren bei einem Wohnungsbrand mindestens zehn Menschen gestorben, darunter auch Kinder.
Das löste einen Sturm der Entrüstung aus, da viele Chinesinnen und Chinesen den offiziellen Angaben nicht trauen und die anhaltenden Corona-Ausgangssperren dafür verantwortlich machen, die Rettung der Bewohner aus dem Feuer behindert zu haben: Das Haus soll unter Lockdown gewesen sein, deshalb kamen die Leute wohl nicht raus und die Feuerwehr nicht schnell genug rein.
Viele teilten diese Nachricht in sozialen Netzwerken mit der Frage, ob sie wohl selbst aus ihren Lockdown-Wohnungen raus dürften, wenn es brennt oder ein Erdbeben gibt.
In großen Teilen von Xinjiang sind Menschen seit mehr als 100 Tagen in ihren Wohnungen eingesperrt – oft ohne die Möglichkeit, in dieser Zeit zu arbeiten und Geld zu verdienen. Aus manchen Orten gibt es Berichte über schlechte medizinische Versorgung und nicht genug Lebensmittel.

Viele kritische Beiträge auf chinesischen Plattformen

Nach dem sich die Nachrichten des Brandes verbreiteten, durchbrachen an mehreren Orten in Xinjiang Menschen die Corona-Sperren und protestierten gegen die Null-Covid-Politik – manche Videos zeigen Protestierende, die die chinesische Nationalhymne singen oder die China-Flagge schwenken.
Auf den chinesischen Plattformen gibt es gerade ungewöhnlich viele kritische Beiträge – auch von Menschen, die sich sonst nicht politisch äußern. Viele Inhalte sind nach kurzer Zeit nicht mehr verfügbar. Die Menschen teilen zum Beispiel das Lied "Hört ihr wie das Volk erklingt" aus "Les Miserables" oder ein Zitat, das Staatsgründer Mao Zedong zugesprochen wird: "Lasst die Menschen reden, davon wird der Himmel nicht herunterfallen".
Um der Zensur zu entgehen, posten viele auch ganze Seiten, auf denen sie immer wieder "sichere Wörter" wiederholen, zum Beispiel: "OK, OK, OK" oder "Unterstützung, Unterstützung, Unterstützung".

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