: Wie kommt China aus der Null-Covid-Falle?

von Jenifer Girke
29.11.2022 | 19:59 Uhr
Trotz der Proteste will China seinen Null-Covid-Kurs fortsetzen. Gibt es aus virologischer Sicht überhaupt Alternativen oder ist es dafür zu spät? Einschätzungen von Experten.
Corona-Tests und Lockdown - ein Leben lang?Quelle: AP
Seit drei Jahren bestimmen Lockdowns, Massentests und Quarantänepflichten den Alltag der meisten Chinesinnen und Chinesen. Die Corona-Zahlen aus China dürften kaum die Realität widerspiegeln, die Schieflage im Reich der Mitte soll nicht nach außen dringen, doch der Unmut gegen den Regierungskurs hat mittlerweile zu den größten Protesten gegen die kommunistische Führung seit Jahrzehnten geführt.
Als Folge lockerten die Behörden Anfang der Woche einzelne Beschränkungen. Aber an der grundsätzlichen Strategie will die Regierung festhalten. Kann sie das angesichts der Unzufriedenheit in der Bevölkerung oder wird ihr nichts anderes übrig bleiben, als sie zu ändern? Und was bedeutet Chinas weiterer Corona-Kurs für den Rest der Welt? So schätzen Experten die Lage ein:

Virologe Björn Meyer: China wird Politik wohl anpassen

Die Proteste scheinen die chinesische Politik dazu zu treiben, ihre Corona-Strategie zu ändern, sagt der Virologe Björn Meyer vom Universitätsklinikum Magdeburg.
Ich denke, dass China seine Politik anpassen wird. Fraglich ist nur, wie stark dies geschehen wird und wie viele Infektionen man dann letztlich zulässt.
Björn Meyer, Virologe
Präventive Maßnahmen wie Impfkampagnen könnten dem Druck auf das Gesundheitssystem entgegenwirken. Eine Situation, die man auch aus Deutschland kenne, so Meyer. Die aktuelle Lage in China könne man mit der Lage in Europa im Frühjahr 2021 vergleichen.
"Da es bislang nur relativ wenige Infektionen in China gegeben hat, ist die Bevölkerung erst einmal größtenteils naiv gegenüber SARS-CoV-2. Dies geht einher mit den gleichen Problemen, wie wir sie auch aus den vergangenen fast drei Jahren kennen, wenn kaum Maßnahmen bestehen: hohe Krankheitslasten und mögliche Überlastungen des Gesundheitssystems."
Das, was in China nun passiert, habe auch Einfluss auf die globale Entwicklung des Coronavirus, denn:
Würde man alle Maßnahmen fallenlassen, würde dies dazu führen, dass rund 1,4 Milliarden Menschen am globalen Infektionsgeschehen teilnehmen und dadurch generell die Evolution des Virus mit beeinflussen.
Björn Meyer, Virologe

Chinas Präsident Xi Jinping habe die Null-Covid-Politik "mit seiner Person verknüpft" und, wenn er sie ändern würde, käme das "einem Gesichtsverlust gleich", so ZDF-Korrespondentin Miriam Steimer.

29.11.2022 | 03:38 min

Epidemiologe Mark Woolhouse: China muss Weg zu "Leben mit Covid" finden

Dass Chinas Null-Covid-Strategie keine langfristig praktikable Lösung sei, meint auch der Epidemiologe Mark Woolhouse von der Universität Edinburgh. Alle Länder mussten den Übergang "zum Leben mit Covid" bewältigen. "China ist die letzte große Volkswirtschaft, die sich dieser Herausforderung stellen muss."
Dafür gibt es seiner Einschätzung nach drei Möglichkeiten.
1. Impfung
Zum einen gebe es den Weg über die Impfung, sagt Woolhouse. So hätten Australien und Neuseeland die meisten Beschränkungen erst dann aufgehoben, als die große Mehrheit der Bevölkerung geimpft war.
2. Durchseuchung
Die zweite Option sei "der Weg über die natürliche Exposition gegenüber Coronavirus-Infektionen". Der größte Teil Afrikas habe diesen Weg gewählt: "Die Durchimpfungsrate ist nach wie vor niedrig, aber die Immunität hat sich durch wiederholte Infektionswellen aufgebaut."
3. Eine Kombination aus Impfung und Durchseuchung
"Drittens gibt es eine Kombination aus Impfung und natürlicher Immunität", erläutert Woolhouse. "Viele Länder, darunter auch das Vereinigte Königreich, haben sich für diesen Weg entschieden."

Forscher Michael Head: Impfung "notwendiger Schritt"

Eigentlich führe für China kein Weg an der Impfung vorbei, so Woolhouse. Es gebe aber zwei Probleme: Zum einen sei die Durchimpfungrate - wohl auch die Impfbereitschaft - in China sehr viel niedriger als in anderen Ländern, vor allem unter Älteren. Zum anderen gelten laut Woolhouse die chinesischen Impfstoffe als weitaus weniger effektiv als westliche.

Die jüngsten Proteste in China sollten "die kommunistische Partei wirklich besorgen" und hätten "Sprengkraft über die Zero-Covid-Politik" hinaus, so Tim Rühlig, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik.

29.11.2022 | 06:09 min
Dass Impfung ein notwendiger Schritt in China ist, bestätigt auch Michael Head, Forscher im Bereich Global Health an der Universität Southampton. Wegsperren dürfe keine dauerhafte Strategie sein, sondern nur "eine kurzfristige Maßnahme, mit der man sich Zeit verschafft".
Nach Heads Auffassung sollte Chinas Führung diese Abriegelungen effektiver einsetzen: "Sie sollten diese Sperren nutzen, um die Durchimpfungsrate deutlich zu erhöhen und einen stärkeren Einsatz der verfügbaren mRNA-Impfstoffe in Erwägung ziehen." Und weiter:
Die weltweite Versorgung ist kein Thema mehr.
Michael Head, Universität Southampton
Allerdings gebe es Berichten zufolge in der Bevölkerung ein hohes Maß an Impfverweigerung. "Daher werden wahrscheinlich verstärkte Gesundheitsförderungsprogramme erforderlich sein."

Mediziner Paul Hunter: China im Dilemma

Der Mediziner Paul Hunter der Universität von East Anglia (UEA) weist darauf hin: Die Hauptsorge sei nicht die Infektion, sondern die schwere Erkrankung. Eine "hybride Immunität", also Impfung und überstandene Infektion, schließt zwar keine erneute Infektion aus, bietet aber vor einem schweren Verlauf und Tod einen wesentlich besseren Schutz, "der wahrscheinlich mehr als drei Jahre anhält", so Hunter.
China sieht Paul Hunter in einem Dilemma:
Wenn sie jetzt ihre Null-Covid-Strategie aufgeben, werden die Infektionen und schweren Krankheiten kurzfristig ansteigen.
Aber wenn sie ihre Null-Covid-Strategie fortsetzen, werden noch mehr Menschen ihren Schutz verlieren, bevor sie dem Virus ausgesetzt sind, und so werden die schweren Krankheiten und Todesfälle langfristig noch größer sein.
Müsste er entscheiden, würde er eine neue Impfkampagne starten, besonders für Ältere. Das Problem sei auch die Impfmüdigkeit.
Hunter fasst die Herausforderung der Gesellschaft und der Politik in China in einer Frage zusammen: "Werden die Chinesen in der Lage sein, so viele Menschen zu impfen, die von einer Impfung profitieren würden, bevor sich die Infektion weiter ausbreitet?"
Quelle: mit Material von Science Media Center

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