Interview

: Grundschulen: "Die Situation ist dramatisch"

09.12.2022 | 19:25 Uhr
Den Grundschulen gelingt es kaum mehr, den Kindern Schreiben, Lesen und Rechnen beizubringen. Die Lage ist dramatisch, sagt Bildungsforscher Olaf Köller. Corona ist nur ein Grund.
Nordrhein-Westfalen, Meerbusch: Schülerinnen und Schüler einer Grundschule sitzen in ihrem Klassenraum.Quelle: Marcel Kusch/dpa
ZDFheute: Ein neues Gutachten der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz kommt zu einem erschreckenden Schluss: Den Grundschulen gelingt es nicht mehr, den Kindern die Grundlagen im Schreiben, Lesen und Rechnen zu vermitteln. Verletzt der Staat seinen Bildungsauftrag?
Olaf Köller: Wir müssen differenzieren. 20 Prozent der Kinder am Ende der Grundschule und am Ende der Sekundarstufe I können schlecht schreiben, lesen und rechnen. Das heißt aber auch: 80 Prozent werden noch erreicht und bauen Kompetenzen über ihre Schuljahre auf. Die 20 Prozent aber haben so geringe Kompetenzen, dass sie kaum Chancen im späteren Berufsleben haben und sich auch nicht an gesellschaftlichen Debatten beteiligen können.
Die Angebote der Grundschule und auch schon der Kita reichen zurzeit nicht aus, um diesen Kindern eine erfolgreiche Bildungskarriere zu ermöglichen.
Olaf Kölle
Der Staat, also die Länder, Kommunen und Schulen, muss einen besonderen Fokus auf diese besonders schwachen Schülerinnen und Schüler legen.

Olaf Köller ...

ZDFheute: 20 Prozent. Wo ist der gesellschaftliche Aufschrei?
Köller: Dass der Aufschrei ausbleibt, hat sicher mit den anderen Krisen zu tun. Natürlich bekommt der Ukraine-Krieg zurecht mehr Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit, auch die damit verbundene Energie- und Klimakrise. Es ist schwierig, mit dem Thema Schule die Aufmerksamkeit zu bekommen, die es eigentlich verdient hätte.
Die Situation ist dramatisch.
Olaf Köller
Wir hatten in den 1960er Jahren die Diskussion über die Bildungskatastrophe. Wir sind jetzt wieder in einer ähnlichen Situation, weil der Wohlstand des Landes davon abhängt, ob Schülerinnen und Schüler ein gewisses Bildungsniveau erreichen. Und das ist massiv gefährdet.
ZDFheute: Der Wissenschaftliche Rat schlägt vor, in die Qualität der Lehrkräfte zu investieren. Die Realität an den Schulen ist: Lehrkräfte fehlen, und die Quereinsteiger können die Qualität nicht leisten.
Köller: Der Lehrkräftemangel schützt uns nicht davor, Quereinsteiger und auch die vorhandenen Lehrkräfte zu qualifizieren. Dafür müssen wir sicher Abstriche im Stundenplan machen. Wir müssen uns auf die Kernfächer konzentrieren. Alle Ressourcen, die die Schule trotz der Mangelsituation noch hat, müssen auf die basalen Fächer Deutsch und Mathematik konzentriert werden.

Die Scherben der Corona-Pandemie

Fast drei Jahre schon Leben mit Corona. Welche Schäden hat die Pandemie angerichtet? Wie fällt das Fazit aus? ZDFheute blickt in der Serie "Die Scherben der Corona-Pandemie" in verschiedene Lebensbereiche.
ZDFheute: Also Sport, Kunst und Religion streichen?
Köller: Vielleicht nicht beim Sport. Aber wenn man gezwungen ist zu reduzieren, dann in diesen Fächern. Für die Zukunft der Kinder ist es eher zu vertreten, wenn mal eine Stunde Kunst ausfällt als eine Stunde Deutsch.
ZDFheute: Welchen Anteil an der jetzigen Misere hat die Corona-Pandemie mit den Schulschließungen und Home-Schooling?
Köller: Wir vermuten, dass durch die Pandemie ein Drittel eines Schuljahres verloren gegangen ist. Insbesondere die jüngeren und benachteiligten Kinder haben unter der Pandemie gelitten. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir die sinkenden Leistungen nicht erst seit der Pandemie beobachten, sondern schon seit zehn Jahren. Die Gründe sind vielfältig.
Es liegt an Zuwanderungswellen, die Schülerschaft ist heterogener, die Kitas können nicht ausreichend Sprachförderung anbieten. Wir stehen durch die ukrainischen Kinder wieder vor Herausforderungen. Wir ziehen eine Generation heran, die große Schwierigkeiten im Schreiben, Lesen, Rechnen hat.
ZDFheute: Können die Kinder das je wieder aufholen, was in den ersten vier Jahren verpasst wird?
Köller: Das ist herausfordernd. Wir wissen, wenn am Ende der Grundschule geringe Kompetenzen aufgebaut wurden, werden sie häufig auch in der Sekundarstufe I nicht besser. Die Risikogruppe wird eher größer. Vereinfacht gesagt: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer mehr. Das beobachten wir leider.
Die Kinder, die am Ende der vierten Klasse abgehängt sind, können das nicht mehr aufholen. Deswegen braucht es zusätzliche Aufbauprogramme für diese benachteiligten Kinder und Jugendlichen. Diese Brennpunktschulen müssen besser ausgestattet werden.
ZDFheute: An diesen Aufbauprogrammen hakt es aber. Das Bundesprogramm "Aufholen nach Corona" läuft Ende des Jahres aus, das neue Startchancen-Programm kommt laut Bundesbildungsministerium frühstens zum Schuljahr 2024/25. Ist 2023 ein verlorenes Jahr?
Köller: Je nach Bundesland ist das unterschiedlich. Es gibt einige Länder, wie Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz oder Berlin, die solche Aufholprogramm finanzieren. Wir haben aber auch Länder ohne. Man muss die Länder ermahnen, nicht auf 2024 zu warten, sondern jetzt Geld bereitzustellen, um die Zeit klug zu überbrücken.
Die Länder stellen gemeinsam mit dem Bund Milliarden für das 49-Euro-Ticket bereit, aber tun sich schwer damit, in die Zukunft ihrer Kinder zu investieren.
Olaf Köller
ZDFheute: Haben Sie eine Antwort darauf, warum sich die Länder schwertun?
Köller: Das hat sicher mit den vielen Krisen zu tun, die wir derzeit haben. Es müssen immer mehr Mittel bereitgestellt werden, um den Menschen das Leben zu erleichtern. Es wird eher darauf geschaut, wie die individuelle Finanzkrise, nicht wie die Bildungskrise überwunden werden kann.
ZDFheute: Braucht es eine Revolution oder findet man sich damit ab?
Köller: Wir brauchen auf jeden Fall eine viel stärkere öffentliche Diskussion. Mich wundert, warum die Arbeitgeberverbände so ruhig sind. Wir verlieren Generationen von potenziellen Auszubildenden, wir haben einen großen Fachkräftemangel, wir haben viele Jugendlichen, die nicht ausbildungsfähige sind. Aber den Aufschrei der Arbeitgeberverbände und Unternehmen höre ich nicht.
Das Interview führte Kristina Hofmann.

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