: "Wiederaufbauinstrument ist ein Meilenstein"

31.12.2020 | 14:21 Uhr
Sechs Monate hatte Deutschland den Vorsitz in der EU-Ratspräsidentschaft inne. Bei einigen schwierigen Themen mit Erfolg, sagt Politologin Linn Selle im ZDFheute-Interview.
ZDF: Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft ist mit einer nie dagewesenen Krise zusammengefallen. Steht die EU danach besser oder schlechter da?
Linn Selle: Die Ratspräsidentschaft ist unter sehr schwierigen Bedingungen gestartet. Schon in der Vor-Corona-Zeit waren die Herausforderungen riesig. Dann kam zum Brexit und zum EU-Haushalt noch die Pandemie dazu. Trotz des holprigen Starts bei der Reaktion auf die Corona-Pandemie steht man heute schon besser da. Aber die Arbeit bleibt natürlich. Und auch die Europapolitik bleibt.

Linn Selle....

Quelle: EBD/K. Neuhauser
... ist Präsidentin der Europäischen Bewegung Deutschland (EBD), einem überparteilichen Zusammenschluss von 260 Organisationen aus Gesellschaft und Wirtschaft.

Quelle: Europäische Bewegung Deutschland

ZDF: Eines der folgenschwersten Ergebnisse der deutschen Ratspräsidentschaft ist das Zustandekommen des EU-Wiederaufbaufonds. Wie wichtig war es, dass Kanzlerin Merkel dafür ihre bisherige Sparpolitik aufgegeben hat?
Selle: Das Wiederaufbauinstrument ist sicherlich ein Meilenstein. Da hat sich gerade die Bundesregierung sehr bewegt.
Es ist letztlich der Aufbruch für Europa, den man sich damals in den Koalitionsvertrag geschrieben hat und den man nun, zweieinhalb Jahre später und im Zeichen der Krise, umgesetzt hat. Erst, aber immerhin.
Insofern ist das ein ganz wichtiges Zeichen. Jetzt geht’s aber um die Umsetzung der Regeln. Und die muss man sicherlich auch noch begleiten.
ZDF: Am Ende des Jahres ist es gelungen, die Auszahlung von Finanzhilfen an die Rechtsstaatlichkeit der Empfängerländer zu koppeln. Für wie wirksam halten dieses Instrument?
Selle:  Es ist ein wichtiger Schritt, aber es wird nicht alle Probleme mit der Rechtsstaatlichkeit lösen. Es ist ganz, ganz wichtig, dass wir endlich eine Verknüpfung zwischen Haushalt und Rechtsstaatskonditionalität haben. Aber es müssen auch noch andere Elemente greifen. Wir müssen langfristig den Grundwerte-Artikel 7 des EU-Vertrags reformieren und wir müssen die Grundrechteagentur stärken. Da bleibt noch viel Arbeit übrig.
ZDF: Eine der großen Aufgaben für Deutschland war es, das Problem der Migration und der Verteilung von Flüchtlingen zu lösen.
Selle: Das ist eines der Themen, das am Ende der Ratspräsidentschaft offen bleibt. Das liegt auch daran, dass sich Corona-bedingt einige Vorschläge der Kommission wie der Migrationspakt verzögert haben. Das ist ärgerlich. Das Thema schwelt seit fünf Jahren und die ideologischen Fronten sind sehr verhärtet. Da hätten sich viele erhofft, dass gerade Deutschland, als ein Land, das die verschiedenen Perspektiven in Europa kennt, vorankommt.
ZDF: Am Anfang der Corona-Krise hat die EU nicht das beste Bild abgegeben, jedes Land war sich selbst das nächste. Wie hat sich das über die Ratspräsidentschaft verändert?
Selle: Der Beginn der Corona-Pandemie war ganz klar ein Solidaritätsversagen. Man sieht aber heute in der Koordination von Antigen-Schnelltests oder in der Kooperation bei der Impfstrategie, dass sich da viel verbessert hat.

Corona-Hilfen und EU-Haushalt

  • Grundsatzeinigung im Juli 2020 auf einen 1,8 Billionen Euro Haushalt. Neu: Für 750 Milliarden Euro Corona-Hilfen sollen im großen Stil gemeinsam Schulden gemacht werden.
  • Protest von Ungarn und Polen wegen einer Rechtsstaatlichkeitsklausel, die die Kürzung von EU-Mitteln zulässt.
  • Finale Einigung im November 2020 durch deutsche Vermittlung: Mechanismen, gegen Kürzungen von EU-Mitteln vorzugehen, wurden ergänzt.

Neues Klimaziel bis 2030

  • Einigung im Dezember 2020 auf den Vorschlag der EU-Kommission, unterstützt von Deutschland, bis 2030 mindestens 55 Prozent weniger Treibhausgase als 1990 auszustoßen.
  • Preis: Finanzielle Zugeständnisse an Länder mit hohem Anteil an Kohleverstromung.

Brexit und Handelspakt mit Großbritannien

  • Um wirtschaftliche Folgen für EU-Länder und Großbritannien zu vermeiden, sollte nach dem Brexit ein Freihandelsabkommen geschlossen werden bis 31.12.2020.
  • Finale Einigung über einen Handelspakt am 24.12.2020 unter deutscher Beteiligung.
  • Einen Tag vor Fristablauf, am 30.12.2020, unterschreiben EU und Großbritannien den Vertrag, so dass das Abkommen vorläufig ab 1. Januar 2021 in Krafttreten kann. Die Unterschrift des EU-Parlaments soll 2021 folgen.

Keine Einigung in der Asylpolitik

  • Der deutsche Vorstoß zu einer gemeinsamen EU-Asylpolitik scheitert.
  • Größter Streitpunkt: Ob und wie die Geflüchteten auf die Mitgliedsstaaten verteilt werden.
  • Einziger Fortschritt: Das deutsche Verhandlungspapier wird als Basis für weitere Gespräche anerkannt.

EU zwischen USA und China

  • Verhandlungen mit China scheiterten an der Pandemie: Ein EU-China-Gipfel in Leipzig wurde wegen Corona abgesagt.
  • Im Verhältnis zu den USA sieht die EU neue Chancen nach der Amtsführung von Joe Biden als US-Präsident am 20. Januar 2021.

Quelle: dpa, ZDF

ZDF: Zum Jahreswechsel ist die Bundesregierung den EU-Staffelstab los. Was erwarten Sie vom nächsten Jahr?
Selle: Die Ratspräsidentschaft geht, Europapolitik bleibt. Wir laufen auf die Bundestagswahl zu, und da ist unsere Erwartung, dass alle pro-europäischen Parteien diskutieren, wie man Europa in die Zukunft führt. Dass wir einen pro-europäischen Bundestagswahlkampf haben, wo um die besten Ideen für die EU gerungen wird.
Das Interview führte Andreas Kynast, Korrespondent im ZDF-Hauptstadtstudio.

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