: "Nirgendwo auf der Welt ist es mehr sicher"

von Jenifer Girke
02.04.2022 | 14:28 Uhr
Fliehen oder bleiben? Eine Entscheidung, die Ukrainer verzweifeln lässt, Familien auseinander reißt - und auf die es scheinbar keine richtige Antwort gibt. Drei Frauen, drei Wege.
Eine Ärztin, die sich für ihre Patienten aufopfert. Eine 21-Jährige, die seit Wochen vor ihrem Kriegstrauma flieht. Eine junge Frau, die zu ihrem Freund nach Dänemark will und Angst hat, ihn nie wieder sehen zu können. Es sind nicht nur Momentaufnahmen, es sind ganze Schicksale, die dem Leid des Krieges ein Gesicht geben.

Eine Ärztin trotzt dem Krieg in der Ukraine

Ärztin Oksana und ihre Kollegen behandeln Krebspatienten. Mitten im zerbombten Charkiw. Immer noch. Bis zur Erschöpfung und darüber hinaus. Seit einigen Tagen operieren sie auch wieder. Eigentlich zu gefährlich unter Kriegsbedingungen, aber nicht zu operieren, sei für einige Patienten ein sicheres Todesurteil:
Wir müssen alles tun, was wir können - egal wie.
Oksana, Ärztin aus Charkiw
Oksana versorgt nicht nur Krebsleidende: Viele Menschen halten es in den Schutzbunkern nicht mehr aus und kommen mit unterschiedlichen Beschwerden zu ihr, vor allem die Kinder. Auch für sie ist Oksana im Dauereinsatz.

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Medikamente werden immer knapper

Wenn sie nicht im weißen Kittel arbeitet, sammelt und verteilt die 44-Jährige Lebensmittel und Hilfsgüter. Doch es fehlt nicht nur an Essen: Medikamente, besonders zur Chemotherapie, werden immer knapper. Auch Krankenschwestern und Pfleger fehlen. Und eine neue Wohnung - denn ihre wurde zerbombt.
Ob sie das traurig oder wütend macht? "Nein, es ist eben passiert und jetzt warten wir, was als nächstes passieren wird", sagt Oksana mit einem müden Lächeln. Zum Schluss erzählt sie, dass sie eine 21-jährige Tochter hat. Katie, sie ist IT-Expertin. Gleich am Anfang des Krieges sei sie nach Warschau geflohen. Damit sie ihr junges Leben weiterleben kann.
Sehen Sie hier einen weiteren Bericht über Oksana und ihre Kollegen:

Eine junge Frau getrieben vom Krieg

Auch Kristina ist 21 Jahre und aus Charkiw. Auch sie will ihr Leben weiterleben. Doch ihre Angst lässt sie nicht los. Sie ist traumatisiert. Seit drei Wochen ständig auf der Flucht. Eine Getriebene des Krieges. Anfang März flüchtete Kristina mit ihrem Freund nach Lemberg. Ihre Familie wollte nicht mit. Für sie unerträglich, wie sie uns Anfang März erzählt:
Ich hasse mich, weil sie in Charkiw sind und ich hier in Sicherheit bin.
Kristina, 21-Jährige aus Charkiw
Nach zwei Wochen kommt ihre Familie nach - große Erleichterung. Doch Kristina fühlt sich nicht sicher in Lemberg. Die Angriffe kommen näher. Erinnerungen an Charkiw rauben ihr immer wieder Zuversicht und Hoffnung:
Ich habe keinen Sinn mehr im Leben gesehen. Ich weiß nicht, warum ich überhaupt noch irgendwo hingehen und arbeiten soll. Für was? Ich fühle mich so zerstört innerlich. Geld bedeutet nichts. Deine Wohnung bedeutet nichts. Deine Kleidung bedeutet nichts.
Kristina, 21-Jährige aus Charkiw
Kristina (21) ist von Charkiw über Lemberg nach Polen und dann nach Berlin geflohen.Quelle: privat
Ende März entscheidet sie sich, nach Polen zu fliehen. Ihre Mutter und Großmutter bleiben zurück in Lemberg. Und auch ihr Freund, denn er darf nicht ausreisen, so wie alle Männer in der Ukraine zwischen 18 und 60 Jahre. Nach zwei Tagen in Warschau überkommt Kristina die Angst, der Krieg könnte auch auf Polen überschwappen. Sie flieht nach Berlin. Kurz spürt sie ein Hauch von Leichtigkeit. Doch das Erlebte holt sie immer wieder ein. Sie will, sie kann nicht bleiben.
Ich gehe in ein Land und verlasse es wieder, dann in das nächste und verlasse es wieder. Weil es einfach nicht sicher ist. Nirgendwo auf der Welt ist es mehr sicher.
Kristina, 21-jährige Ukrainerin
Bis sich die Lage in der Ukraine beruhigt hat, wird sie weiterfliehen - vor dem Krieg und ihrer eigenen Angst.
Sehen Sie hier die erste Hälfte von Kristinas und Katerynas Geschichte:

Einfache Wünsche für ein neues Leben

Sicherheit - das will auch Kateryna aus Cherson. Ihr Ziel: Dänemark. Dort lebt ihr Freund Anders. Seit zwei Jahren führen sie eine glückliche Fernbeziehung. Dann kam der Krieg. Und damit die Angst, sich vielleicht nie wieder sehen zu können. Anfang März erzählt sie:
Ich schreibe meinem Freund die ganze Zeit, dass ich ihn liebe. Weil ich nicht weiß, welche Nachricht die letzte sein könnte.
Kateryna aus Cherson
Die Situation in Cherson spitzt sich zu. Wer sich gegen die russischen Besatzer stellt, lebt sehr gefährlich. Kateryna schreibt uns zwei Wochen nach dem Gespräch: "Menschen verschwinden auf einmal in meiner Stadt. Das russische Militär hält nach Aktivisten Ausschau, nach Leuten von der Polizei, vom Sicherheitsdienst und nach ehemaligen Soldaten. Die kommen zu ihnen nach Hause und legen Minen unter die Türen. Das ist total beängstigend."

"Bananen kaufen" nicht selbstverständlich

Kurze Zeit später schreibt uns Kateryna, dass sie im Zug nach Polen sei. Ihr Freund Anders macht sich sofort auf den Weg nach Krakau, um sie dort abzuholen. Und tatsächlich: Es klappt. Endlich können sie sich wieder in die Arme schließen. Gemeinsam fliegen sie nach Dänemark.
In Cherson hat Kateryna wochenlang nicht das Haus verlassen. Nun realisiert sie langsam, dass sie in Sicherheit ist und sich frei bewegen kann:
Stell dir vor, ich kann rausgehen und Bananen kaufen. Ich muss nicht im Haus bleiben und von ihnen träumen. Oder vier Stück wochenlang aufbewahren. Ich kann rausgehen und Bananen kaufen. Das ist nicht selbstverständlich, verstehst du?
Kateryna aus Cherson
Kateryna will Dänisch lernen, wieder als Ingenieurin arbeiten, die Zeit mit Anders genießen. Einfache Wünsche für ein neues Leben. 
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