: Forscher warnen vor nuklearer Eskalation

von Marcel Burkhardt und Michaela Waldow
21.06.2022 | 10:30 Uhr
Führende deutsche Friedens- und Konfliktforschungsinstitute kritisieren ein weltweites nukleares Aufrüsten. Von der Bundesregierung fordern sie mehr Einsatz für atomare Abrüstung.
Das aktuelle Friedensgutachten warnt vor einem nuklearen Wettrüsten. Archivbild Quelle: dpa

Das Wichtigste in Kürze:

  • Dem Gutachten zufolge erhöht Russlands Krieg gegen die Ukraine die Gefahr eines nuklearen Wettrüstens massiv.
  • Von der Bundesregierung fordern die Konfliktforschungsinstitute eine aktive Rolle in der Nato für ein Abrüsten statt Aufrüsten.
  • Als Mittel der Deeskalation solle Deutschland zudem langfristig auf die Stationierung von Atomwaffen verzichten.
Der illegale Angriff Russlands auf die Ukraine und russische nukleare Drohgebärden erhöhen massiv das Risiko einer nuklearen Eskalation.
Das ist ein zentrales Ergebnis des aktuellen Friedensgutachtens führender deutscher Friedens- und Konfliktforschungsinstitute, das am heutigen Dienstag in Berlin vorgestellt worden ist.

Russischer Angriffskrieg erschüttert die Welt

Zusätzlich zu Leid und Zerstörung in der Ukraine erschüttere der russische Angriffskrieg die europäische Sicherheitsordnung und habe weltweit politische, wirtschaftliche und soziale Folgen:
  • Handelsbeziehungen sind unterbrochen, in vielen Ländern ist die Ernährungssicherheit der Bevölkerung gefährdet
  • Das Krisenmanagement im Konflikt über die Nuklearanlagen und das Atomprogramm im Iran stockt
  • Statt nuklearer Abrüstung werde derzeit "weltweit aufgerüstet"
Die Situation fassen die Forschenden so zusammen:
Wir beobachten quantitative, qualitative und ideelle Aufwertungen von Nuklearwaffen in den Sicherheitsdoktrinen der Kernwaffenstaaten und ihrer Verbündeten.

Nukleare Rüstungsdynamiken

Als Grund verweisen Staaten demnach auf das gestiegene Rüstungsniveau potenzieller Gegner und damit einhergehende Unsicherheit.
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Als großes Manko für die internationale Sicherheit bezeichnet das Friedensgutachten, dass fast alle bilateralen Rüstungskontrollmechanismen zwischen den USA und Russland aufgegeben wurden:
Zerstörtes Vertrauen und die Erosion in der Rüstungskontrolle sind zwei Hauptursachen für das derzeitige Wettrüsten in der Welt.
Jana Baldus, Mitautorin des Friedensgutachtens 2022
Die Erosion der internationalen Rüstungskontrolle habe bereits vor 20 Jahren damit begonnen, als die US-Regierung unter Präsident George W. Bush den Vertrag über die Begrenzung von antiballistischen Raketenabwehrsystemen aufkündigte.

"Sehr schwer, aus der Eskalationsspirale herauszukommen"

Der US-Rückzug aus den bilateralen Verträgen gipfelte unter US-Präsident Donald Trump im Austritt aus dem INF-Abkommen zum Verzicht auf atomare Mittelstreckenraketen und dem Vertrag über den Offenen Himmel. Auch unter US-Präsident Joe Biden "scheint eine Reparatur kaum möglich", heißt es in dem Friedensgutachten.
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"Es erscheint derzeit sehr schwer, aus der Eskalationsspirale herauszukommen, aber die Risiken sind so groß, dass es die Akteure versuchen müssen", sagt Jana Baldus von der Hessischen Stiftung Frieden- und Konfliktforschung (HSFK) im ZDFheute-Gespräch.

Forscherin: USA und Russland müssen verhandeln

Den Königsweg heraus aus dem Wettrüsten sieht Baldus darin, dass die USA und Russland schnellstmöglich Anschlussverträge für die aufgekündigten bilateralen Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträge aushandeln.
"Über Rüstungskontrolle lässt sich verlorenes Vertrauen wieder aufbauen", sagt Baldus. Entgegen dem aktuellen Trend hält die Wissenschaftlerin einen konstruktiven Austausch zwischen den Großmächten nicht für ausgeschlossen:
Etwas hoffnungsvoll stimmt mich, dass es den USA und Russland selbst in sehr kritischen Phasen des Kalten Krieges möglich war, über Rüstungskontrolle und Abrüstung zu verhandeln.
Jana Baldus, Mitautorin des Friedensgutachtens 2022
Um ein Umdenken vom Wett- hin zum Abrüsten zu forcieren, fordern die Autorinnen und Autoren des Friedensgutachtens auch eine aktivere Rolle der Bundesregierung.
"Deutschland sollte sein Gewicht in der NATO nutzen, um eine nukleare Abrüstungsdebatte anzustoßen und weiterzuführen, um gemeinsam mit anderen Bündnispartnern deeskalierend zu wirken", sagt Baldus.
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Künftig auf Atomwaffen in Deutschland verzichten

Zudem solle Deutschland "als Mittel der Deeskalation" künftig auch auf die Stationierung von Nuklearwaffen verzichten. Kurzfristig sei dies zwar nicht durchsetzbar, aber langfristig doch ein sinnvolles Ziel – "und man könnte es auch als Hebel nutzen in künftigen Gesprächen, falls Russland Atomwaffen in Belarus stationieren will", erklärt Baldus. Oberstes Ziel sei es, alle Chancen für die Reduktion und Eliminierung nuklearer Risiken zu nutzen.

Forschende fordern Abrüstung von Bundesregierung

In dem Zusammenhang erinnern die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die aktuelle Bundesregierung an die im Koalitionsvertrag angekündigte "abrüstungspolitische Offensive". Daran gelte es auch im Sommer 2022 festzuhalten, fordern sie.
Ihr Argument: Die "Zeitenwende" müsse auch neue diplomatische und rüstungskontrollpolitische Konzepte hervorbringen.

Das Friedensgutachten

Das Friedensgutachten ist die jährlich erscheinende Publikation des Bonn International Centre for Conflict Studies (BICC), des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Frieden- und Konfliktforschung (HSFK), des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) und des Instituts für Entwicklung und Frieden der Universität Duisburg-Essen (INEF). Die führenden deutschen Friedens- und Konfliktforschungsinstitute analysieren darin seit 1987 aktuelle internationale Konflikte, zeigen Trends der internationalen Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik auf und geben klare Empfehlungen für die Politik. Interdisziplinäre Teams aus Politikwissenschaft, Soziologie, Ethnologie, Physik und Religionswissenschaften arbeiten gemeinsam an den Kapiteln und bringen dabei verschiedene Blickwinkel ein.

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