: Warum Moskau unter doppeltem Zeitdruck steht

von Christian Mölling, András Rácz
11.02.2023 | 15:03 Uhr
Die russische Frühjahrsoffensive in der Ukraine läuft noch nicht auf Hochtouren. Dabei steht Russland unter großem Zeitdruck - und intensiviert die Einkreisung von Bachmut.
Russland hat offenbar seinen seit längerem erwarteten neuen Angriff auf die Ukraine gestartet. Während solche Offensiven selten einen eindeutigen Anfang haben, hat die Intensität der russischen Angriffe in den letzten zwei bis drei Tagen entschieden zugenommen.
Die Hauptangriffsrichtung ist die Region Swatowe-Kreminna im nördlichen Teil der Region Luhansk - von dort versuchen die russischen Streitkräfte, nach Westen vorzustoßen. Sie greifen auch in Richtung Kupjansk an.

Dr. Christian Mölling ...

Quelle: DGAP
... ist Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin und leitet dort das Programm Sicherheit, Verteidigung und Rüstung. Er forscht und publiziert seit über 20 Jahren zu den Themenkomplexen Sicherheit und Verteidigung, Rüstung und Technologie, Stabilisierung und Krisenmanagement. Für ZDFheute analysiert er regelmäßig die militärischen Entwicklungen im Ukraine-Konflikt.

Dr. András Rácz ...

Quelle: DGAP
... ist Associate Fellow im Programm Sicherheit und Verteidigung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. Er forscht und publiziert zu Streitkräften in Osteuropa und Russland und hybrider Kriegsführung.

Russische Armee wartet auf den Durchbruch

Die Frühjahrsoffensive ist noch nicht in vollem Gange. Russland hat hier bedeutende Teile von insgesamt vier Divisionen zusammengezogen, aber bisher hat Moskau nur drei von ihnen in die Kämpfe einbezogen. Unterdessen sind andere Teile der vier Divisionen noch nicht an der Frontlinie erschienen, sondern warten im Hinterland, in der Region Luhansk.
Höchstwahrscheinlich beabsichtigt Russland, sie zur Ausweitung des Durchbruchs einzusetzen, sollte der Angriff einen solchen erreichen. Sollten sie in dieser Region Erfolg haben, könnten sie den Donbass von Norden her flankieren und so die stark befestigten Städte Slawjansk und Kramatorsk direkt angreifen, ohne alle befestigten Verteidigungslinien der Ukraine im Donbass durchbrechen zu müssen.

Ukrainischer Wechsel der Verteidigungstaktik möglich

Bislang scheinen die Ukrainer ihre Stellungen effizient zu verteidigen. Sollte der russische Druck zunehmen und die Verteidiger sich zurückziehen müssen, werden die Ukrainer wahrscheinlich die zu Beginn des Krieges angewandte Taktik wiederholen. Anstatt zu versuchen, offene Felder zu halten, würden sie sich wahrscheinlich auf die Dörfer und Städte verlassen, wo die Gebäude den Verteidigern helfen.
Durch den Einsatz umfangreicher und fortschrittlicher drohnengestützter Aufklärung, weitreichender Artillerie und moderner westlicher Panzerabwehrwaffen könnten sie so höchstwahrscheinlich die russische Offensive verlangsamen und ausbluten lassen, wenn auch nicht ohne einige Gebietsverluste.

Die Panzerlieferungen an die Ukraine seien wichtig, weil von Russland eine Frühjahrsoffensive "im Gebiet Luhansk vorbereitet wird", sagt Sicherheitssexpertin Claudia Major.

27.01.2023 | 06:51 min

Russischer Druck auf Bachmut nimmt zu

Parallel zu diesem Vorstoß in der Region Luhansk hat Russland auch seine Bemühungen um Bachmut intensiviert. Russischen regulären Streitkräften in Verbindung mit Einheiten der Wagner-Söldner ist es gelungen, beide wichtigen Straßen, die Bachmut mit dem Rest der Ukraine verbinden, zu bedrohen. Damit ist die Stadt zwar noch nicht eingekesselt, aber die Versorgungslage wird immer komplizierter.
In der Ukraine hat bereits eine öffentliche Debatte darüber begonnen, wie lange es noch notwendig und möglich ist, Bachmut zu halten, und ob sich die ukrainischen Streitkräfte aus der Stadt zurückziehen sollten, um Personal und Ressourcen zu sparen. Ein solcher Rückzug wäre weder beispiellos noch in irgendeiner Weise katastrophal.
Im Sommer 2022 zogen sich die ukrainischen Streitkräfte sowohl aus Sjewjerodonezk als auch aus Lyssytschansk zurück, als die beiden Städte nicht mehr zu halten waren, um eine Einkreisung zu vermeiden. Sollte Bachmut fallen, würde dies also keineswegs zu einem politischen oder militärischen Zusammenbruch der ukrainischen Verteidigung führen. Allerdings könnte der Kreml dies gegenüber seinem heimischen Publikum sicherlich als strategischen Erfolg darstellen.

Doppelter Zeitdruck für Russland

Inzwischen steht Russland unter einem doppelten Zeitdruck, um größere Erfolge zu erzielen. Erstens müssen Moskaus Truppen erfolgreich sein, bevor moderne westliche Panzer und gepanzerte Kampffahrzeuge in größerer Zahl an der Front eintreffen, was voraussichtlich im April der Fall sein wird.
Zweitens droht vor allem die bevorstehende Schlammperiode, die sogenannte Rasputitsa, jegliche Offensivmanöver zu verlangsamen. Diese Schlammperiode beginnt in der Regel Mitte oder Ende März; in Anbetracht dieses außergewöhnlich milden Winters könnte sie aber auch schon früher einsetzen.
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