: "Der Brexit stinkt zum Himmel!"

von Andreas Stamm, London
30.12.2022 | 15:10 Uhr
Vor zwei Jahren ging der Traum der Brexiteers von der großen Freiheit in Erfüllung: der Vollzug des EU-Austritts. Für die britische Wirtschaft ist er zunehmend ein Albtraum.
Der Kontinent, Wirtschaftswachstum, sind in weite Ferne gerückt. Eine hausgemachte Krise, inmitten anderer Großkrisen wie Pandemie und Ukraine-Krieg. Die versprochenen großen Wohltaten, die der Brexit bringen soll: Nichts davon ist bislang eingetreten. Ganz im Gegenteil, erklärt Simon Spurrell, Firmengründer der Cheshire Cheese Company.
Alles Käse, dieser Brexit.
Simon Spurrell, Cheshire Cheese Company

"Gelobtes Land" Europäische Union

Europa war für die Käserei im nordenglischen Macclesfield das gelobte Land. Satte Zuwächse im Geschäft mit dem Kontinent Jahr für Jahr. Nun ist das komplette Geschäft mit dem Kontinent aus und vorbei, über Nacht, als am 1. Januar 2021 der EU-Austritt Fakt wurde.
Es führte Stück für Stück zu mehr Bürokratie und Kosten. Extrem hohe Ausgaben für kleine Unternehmen.
Simon Spurrell, Cheshire Cheese Company

Hohe Zollkosten und null Hilfe von der britischen Regierung

In zwei Jahren hat die Firma 600.000 Euro verloren, stand vor dem Ruin. Das Unternehmen lieferte oft Einzelbestellungen nach Europa. Bei 30 Pfund für den Käse kommen nun 180 für die Zollformalitäten dazu.

Grenzbeamte, Klinikpersonal und viele weitere öffentliche Sektoren in Großbritannien legen über die Feiertage ihre Arbeit nieder, um für höhere Löhne zu streiken. Besonders Reisende müssen mit langen Wartezeiten rechnen.

23.12.2022 | 04:20 min
Es gab null Hilfe von der Regierung, die hätten ja den Deal, den gerade geschlossenen Handelsvertrag mit der EU, selbst nicht verstanden. "Hinter vorgehaltener Hand," so Spurell, "haben die Regierungsbeamten uns damals erklärt, dass wir eine Niederlassung in der EU gründen sollten."

Alternativen für Firmen: Geschluckt werden oder verkaufen

Am Ende musste Spurrell seine Firma verkaufen. An den Käserei-Giganten Joseph Heller. Die Ware geht nun über Amsterdam ins Europageschäft. Arbeitsplätze sind dort entstanden und nicht mehr in Macclesfield.
Heller zahlt auch 180 Pfund für jede Lieferung - aber bei einmal 1.000 Paletten verspielt sich das preislich. Geschluckt werden oder Pleite gehen - das sei die Frage für klein- und mittelständische Unternehmen.
Ich denke, wir müssen wieder dem Binnenmarkt beitreten, oder unsere Handelsbeziehungen deutlich verbessern. Wir müssen uns wieder mit der EU anfreunden.
Simon Spurrell, Cheshire Cheese Company

Brexit ist für Wirtschaft eine Bilanz des Schreckens

Das große Bild nach zwei Jahren Brexit - es tut der Wirtschaft weh. Denn auch größere Unternehmen kämpfen mit den Folgen. Der Tenor in der Führungsetagen: Der Austritt sei in Summe schlimmer für Großbritannien als die Folgen der Pandemie oder des Ukraine-Krieges.

Zwei Jahre Brexit in Zahlen

  • Mit vier bis sechs Prozent weniger Wachstum des Bruttosozialprodukts rechnen unabhängige Expertengremien. Hunderte Milliarden, die nicht erwirtschaftet werden.
  • bis zu 15 Prozent weniger Ein- und Ausfuhren aus bzw. in die EU seitdem
  • Großbritannien ist das einzige G7-Mitglied, dessen Wirtschaft noch immer nicht das Vor-Pandemie-Niveau erreicht hat. Ökonomen sehen dafür nur den Brexit als Erklärung.
  • Das Pfund hat seit dem Brexit deutlich an Wert eingebüßt, zwischen zehn und 15 Prozent. Teure Importe heizen die Inflation weiter an. Exporteure profitieren nicht aufgrund der Brexit-Handelshürden.
  • Allein für Lebensmittel zahlt jeder Haushalt seit dem und durch den Brexit im Schnitt umgerechnet 250 Euro mehr.
  • In einer Umfrage der britischen Handelskammer unter 1.168 Unternehmen geben 77 Prozent an, der Brexit habe keinen positiven Effekt. Mehr als die Hälfte haben Schwierigkeiten mit den neuen Regeln im Handel.
  • 80 Prozent der Unternehmen erklären, dass der Brexit schlimmer sei als Pandemiefolgen oder der Ukraine-Krieg. 83 Prozent, erwarten, dass die gravierendsten Brexit-Folgen noch kommen werden.
  • 56 Prozent der Briten halten den Austritt für einen Fehler. Einer von fünf, die für den Brexit gestimmt haben, sieht das mittlerweile auch so.
Der Brexit ist keine Generalerklärung für die momentane Wirtschaftskrise in Großbritannien. Aber es ist wie ein schwerer Anker, der die Ökonomie nach unten zieht, erklärt einer der führenden Experten in Sachen britisch-europäisches Verhältnis, Prof. Anand Menon von der Denkfabrik "UK in a changing Europe":
Wie mit den negativen Auswirkungen des Brexits umgehen, darauf hat niemand eine Antwort. Denn würden wir das wirtschaftlich Beste tun und wieder dem Binnenmarkt beitreten - das würde uns wieder ins politische Chaos stürzen.
Prof. Anand Menon, Denkfabrik "UK in a changing Europe"

Menon: "Noch kein allgemeines Brexit-Bedauern"

Für Menon liegt der Grund dafür in der EU: "Weil wir dann die Regeln, die in Brüssel gemacht werden, ohne Mitspracherecht akzeptieren müssten." Was auch bedeute, dass es kein Zurück gebe, zumindest nicht in absehbarer Zeit, so Menon.
Es gibt noch kein allgemeines Brexit-Bedauern.
Anand Menon, Professor für Europäische Studien, King's College
"Am 24. Juni 2016 bedauerten 48 Prozent der britischen Öffentlichkeit den Brexit. Da sind die dazu gekommen, die jetzt denken, dass es 2016 die falsche Entscheidung war. Auch ein erheblicher Teil der Austrittswähler ist jetzt bereit zu sagen, dass Brexit schlecht für die Wirtschaft war," so Menon.

Handel mit anderen Nationen gleicht Verluste nicht aus

Auch, weil die großen Versprechungen, dass ein freies Britannien mit aller Welt handeln könnte, um die Verluste mit der EU auszugleichen, sich als Fantasie herausgestellt hätten:
Wir handeln mit anderen Ländern nicht so viel wie mit der Europäischen Union. Wir handeln mit Irland viel mehr als mit den meisten Ländern in Asien.
Anand Menon, Professor für Europäische Studien, King's College
"Und durch die Öffnung unserer Märkte hat die Regierung Teile unserer Wirtschaft einem größeren Wettbewerb ausgesetzt. Vor allem bei den Handelsabkommen mit Australien und Neuseeland," so Menon weiter.

Brexit-Streit zwischen London und Brüssel geht weiter

Auch politisch ist der Brexit noch lange nicht erledigt, anders als der damalige Premier Johnson zum Austritt erklärt hatte: Noch immer streiten London und Brüssel um das Nordirland-Protokoll. Das besagt, dass Nordirland wirtschaftlich Teil der EU bleibt. Damit kann die Grenze zur Republik Irland offenbleiben.
Dass ihr Landesteil anders behandelt wird als der Rest des Königreichs, erzürnt jedoch die probritischen Parteien in Nordirland. Die blockieren das Regionalparlament. Seit Monaten gibt es keine Regierung.
Woran auch Ärzte verzweifeln. Ohne ein verabschiedetes Gesundheitsbudget wachsen die Wartelisten, ohnehin die längsten im Land, weiter, erklärt der Sprecher der nordirischen Hausärztevereinigung, Dr. Alan Stout.
Selbst mit einer funktionierenden Regierung ist es schwierig. Wir werden momentan von Patienten überrannt. Seit sechs Monaten hätte es eine Regierung geben sollen, die einen Haushalt verabschiedet. Wir hätten ein Budget haben sollen, eins für mehrere Jahre.
Dr. Alan Stout, nordirischen Hausärztevereinigung

Streitschlichtung mit der EU im April 2023?

Britanniens neuer Premier Rishi Sunak hat Hoffnung gemacht, dass der Streit mit der EU geschlichtet werden kann. Bis zum 25. Jubiläum des Endes des nordirischen Bürgerkriegs kommenden April. Prof. Menon erklärt:
Ich sehe nicht, wie Premier Sunak das schaffen will, ohne dass Teile seiner Partei meutern.
Prof. Anand Menon, Denkfabrik "UK in a changing Europe"
"Er ist gefangen: Zwischen dem Wunsch, einen Kompromiss zu finden. Bevor US-Präsident Biden zum Jahrestag des Karfreitagsabkommens nach Belfast kommt. Und seiner sturen Parlamentsfraktion," sagt Menon.

Brexit-Bilanz: Enormer Schaden für die britische Wirtschaft

Zwei Jahre danach kann man eine klare Bilanz ziehen. Der Schaden für die britische Wirtschaft ist enorm. Die regierenden Konservativen haben sich über den Brexit selbst zerfleischt. Und dürften bei der nächsten Wahl wohl in der Opposition landen.
Labour, bald vielleicht an der Macht, meidet das Thema Brexit wie der Teufel das Weihwasser. Aus Angst, dass deren durchaus patriotische Klientel im Arbeitermilieu jegliche Bewegung in Richtung EU bestrafen könnten, und den sicher geglaubten Wahlsieg gefährden.
Die EU hat größere Probleme als den Brexit. Europa hat sich insgesamt selbst geschwächt. Und mit der Art und Weise, wie der Brexit ablief, hat Großbritannien viel internationales Renommee verloren.

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