: Bremst der Atomausstieg die Energiewende?

von Nils Metzger
31.12.2021 | 08:28 Uhr
Deutschland kann die Klimaziele laut Wirtschaftsminister Habeck auch mit Atomausstieg erreichen. Zum Jahreswechsel gehen weitere Kernkraftwerke vom Netz. Eine falsche Entscheidung?
Das Atomkraftwerk Grohnde in Niedersachsen gehört zu jenen, die zum Jahreswechsel vom Netz gehen. (Archivbild)Quelle: dpa
Deutschland wird seine Klimaziele frühestens 2024 erreichen können, der Rückstand für die kommenden zwei Jahre sei bereits zu groß. Mit dieser Prognose verpasste Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) der Ampel-Klimaschutz-Euphorie einen Dämpfer.

Drei Atomkraftwerke gehen zum Jahreswechsel vom Netz

Am 2011 beschlossenen Atomausstieg will Habeck aber nicht rütteln. Im ZDF-Interview sagte er am Mittwoch:
Wir können die Klimaziele auch mit dem Atomausstieg erreichen.
Wirtschaftsminister Robert Habeck, Grüne
Während der Ausbau der erneuerbaren Energien zuletzt schleppend voranging, werden zum Jahreswechsel drei weitere Atomkraftwerke mit einer Leistung von insgesamt rund 4.250 Megawatt endgültig vom Netz gehen.
Atomenergie verursacht deutlich niedrigere CO2-Emissionen je Megawatt als fossile Brennstoffe wie Kohle und Gas. Laut Habeck ist der Atomausstieg aber weiterhin richtig. Rechtfertigt der grüne Minister hier eine Klimasünde?
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Wird Kernenergie durch Kohle und Gas ersetzt?

"In der Vergangenheit wurden die Erzeugungskapazitäten der Atomenergie in erster Linie durch erneuerbare Energien ersetzt", sagt die Energieökonomin Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung zu ZDFheute.
In den vergangenen 20 Jahren stieg ihr Anteil an der Stromerzeugung von nahezu null auf knapp 50 Prozent. "Somit wurde der Anteil der wegfallenden Atomenergie-Kapazitäten durch erneuerbare Energien mehr als überkompensiert", betont Kemfert.
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Dennoch kann das Abschalten der Atomkraftwerke laut Kemfert vorrübergehend einen Rückschritt beim Klimaschutz bedeuten. "Kurzfristig ist aufgrund des Ausbremsens des Ausbaus der erneuerbaren Energien damit zu rechnen, dass der Anteil von Atomstrom in erster Linie durch fossile Kapazitäten ersetzt wird."
Nur durch das Ausbremsen des Ausbaus der erneuerbaren Energien wurde unnötigerweise der Anteil von Kohle und Erdgas erhöht.
Claudia Kemfert, Professorin, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung
Jetzt müssten die aktuellen acht Gigawatt Atomernergie-Kapazität möglichst schnell durch erneuerbare Energien ersetzt werden.

Was sind die deutschen Klimaziele?

Das Klimaschutzgesetz legt Maßnahmen fest, mit denen Deutschland bis zum Jahr 2045 treibhausgasneutral werden soll. Teil des Gesetzes sind verbindliche Sektorziele zur Senkung des CO2-Ausstoßes bis zum Jahr 2030, die für jeden Wirtschaftsbereich eine maximale Emissionsmenge festlegen. Die Vorgaben werden jährlich weiter gesenkt.

Bau neuer Atomkraftwerke dauert zu lang

Jetzt neue Atomkraftwerke zu bauen, ist keine Strategie für die laufende Energiewende. Allein die Genehmigungsverfahren der letzten sechs verbleibenden Atomkraftwerke in den 1970er und 1980er Jahren dauerten zwischen acht und zwölf Jahren.
Kernkraft-Befürworter führen teils neue Technologien wie Thorium-Reaktoren als innovativen Ausweg an. Die existieren bislang nur auf dem Papier. Würde heute in Deutschland ein neues Atomkraftwerk geplant, würde es vermutlich erst Strom liefern, wenn der Umstieg auf erneuerbare Energien bereits weitgehend abgeschlossen ist.
Für Kempfert ist das "völlig unpraktikabel und damit auch komplett unrealistisch. Selbst die Energieerzeuger wollen keine Renaissance der Atomenergie."
Atomenergie ist eine Technik der Vergangenheit, nicht der Zukunft.
Claudia Kemfert, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung

Atomkraft hat enorme Folgekosten

Zudem drohten solche Projekte zu unrentablen Milliardengräbern zu werden. Strom aus erneuerbaren Energien wird durch neue Technologien und niedrige Folgekosten tendenziell günstiger. Bei Atomstrom müssen Betreiber oder Staat hingegen die Kosten für Endlagerung, oder Brennstoff-Aufbereitung übernehmen.

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"Mit dem Abschalten der letzten Atomkraftwerke ist das Kapitel Atomenergie nicht beendet", sagt Kemfert. Der Rückbau eines Atomkraftwerks nach Stilllegung dauerte Jahrzehnte und kostet Milliardenbeträge.
Auch können Atomkraftwerke nahezu unmöglich gegen schwere Unfälle versichert werden - ein GAU wie in Fukushima ist unwahrscheinlich, die Kosten müsste jedoch die Gemeinschaft tragen.

Ohne Atomausstieg keine Energiewende?

Für die Energie-Expertin Claudia Kemfert sind der deutsche Atomausstieg und die weltweite Verbreitung der erneuerbaren Energien miteinander verknüpft. "Durch die Förderung erneuerbarer Energien in Deutschland seit über 20 Jahren sind die Kosten der erneuerbaren Energien weltweit massiv gesunken."

Als Vorreiter hat Deutschland einen überproportionalen Teil der Entwicklungskosten dieser Technologien getragen. "Der Atomausstieg und der gleichzeitige Beginn der Förderung der erneuerbaren Energien durch das damalige EEG sind der Startschuss für diese Entwicklung", so Kemfert.

Was ist mit dem Weiterbetrieb der alten Kraftwerke?

Der 2011 vom Bundestag beschlossene Atomausstieg war ein politisches Großprojekt mit einer langen Kette von Konsequenzen. Betreiber klagten jahrelang gegen die Entscheidung - vor allem, um finanziell entschädigt zu werden.
Im März 2021 einigte man sich auf eine Milliarden-Zahlung des Bundes an die Energiekonzerne. Keine Seite hat ein Interesse, diesen Konsens aufzukündigen. Seit einem Jahrzehnt bereiten sich die Betreiber auf ein fixes Ende vor. Um die Kraftwerke weiter betreiben zu können, fehlt alles: Personal, Ersatzteile, Betriebsgenehmigung.
Der Industrieverband Kerntechnik Deutschland, in dem Unternehmen der Branche organisiert sind, schreibt: "Technisch gesehen könnten die Kernkraftwerke in Deutschland auch deutlich länger betrieben werden (…). Allerdings stünden dem aufgrund der sehr weit fortgeschrittenen Planung der Betriebsbeendigung erhebliche Hürden (...) im Weg."
In Summe lassen diese Faktoren einen Weiterbetrieb der deutschen Kernkraftwerke als wenig wahrscheinlich erscheinen.
Industrieverband Kerntechnik Deutschland
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Muss Deutschland jetzt Atomstrom importieren?

Deutschland bleibe trotz Atomausstieg Netto-Strom-Exporteur, betont Kemfert. Modellrechnungen zufolge könnten die Importe etwas zunehmen. "Dieser importierte Strom wird voraussichtlich nicht aus Frankreich kommen, da die Kapazitäten dort beschränkt sind", erklärt Kemfert.
Stattdessen könnten Österreich oder Dänemark Strom aus erneuerbaren Energien liefern. Ein Großteil der Stromimporte aus Frankreich würde "aufgrund langfristiger Verträge in den italienischen Markt weitergeleitet. Deutschland ist somit ein Transitland für französischen Atomstrom."

Fazit

Der Weiterbetrieb der alten Reaktoren hätte einen schnelleren Ausstieg aus Kohle und Gas ermöglichen können. Der deutsche Atomausstieg ist jedoch lange geplant und kann nicht einfach umgekehrt werden. Stattdessen hätte man für das Ziel Energiewende den Ausbau der erneuerbaren Energien noch entschiedener vorantreiben müssen. Der Bau neuer Atomkraftwerke wird von Experten als kaum praktikabel angesehen.

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