: Ukraine: Tote weisen Folterspuren auf
16.09.2022 | 21:28 Uhr
Nahe der zurückeroberten Stadt Isjum sind Gräber mit Hunderten Toten entdeckt worden. Laut ukrainischen Angaben weisen einige Leichen Zeichen von Folter auf. 
Mehr als 400 Leichen wurden in einem Waldstück in Isjum gefunden. Exhumierungen durch ukrainische Ermittler sollen nun Klarheit über die Todesursachen der Opfer bringen.
16.09.2022 | 01:32 minNahe der Stadt Isjum, die von ukrainischen Truppen zurückerobert wurde, sind nach Angaben der Ukraine mehr als 440 Gräber entdeckt worden.
Ob es sich dabei um Massengräber handelt, ist unklar. Der ukrainische Vermisstenbeauftragte, Oleh Kotenko, sagte am Freitagvormittag es handele sich nicht um ein Massengrab wie in Butscha, sondern um viele Einzelgräber. Allerdings ist auch von einem Grab die Rede, in dem den Angaben zufolge 17 ukrainische Soldaten lagen.
"Das ist nur eine der Massengrabstätten, die in der Nähe von Isjum gefunden wurden", sagte der ukrainische Präsidentenberater Mychailo Podoljak. In den russisch besetzten Gebieten habe es monatelang "Terror, Gewalt, Folter und Massenmorde" gegeben.
Leichen weisen laut Gouverneur Anzeichen von Gewalt auf
Laut dem örtlichen Gouverneur weisen fast alle der Leichen Anzeichen eines gewaltsamen Todes auf. Der Gouverneur der Region Charkiw, Oleg Synegubow, schrieb am Freitag im Onlinedienst Telegram, dies sei bei "99 Prozent" der Leichen der Fall.
ZDF-Reporterin Katrin Eigendorf, die vor Ort in Isjum war, berichtet: "Man will jetzt jeden einzelnen Leichnam auf Spuren untersuchen: Sind das Menschen, die gewaltsam gestorben sind, was ist wirklich mit ihnen passiert."
Dass die Leichen Spuren von Gewalt aufweisen, könne viel heißen, gibt Eigendorf zu bedenken. "Sie können einem gewaltsamen Angriff zum Opfer gefallen sein, erschossen worden sein, die Frage ist natürlich auch: Hat es hier Folter gegeben. Gezielte Erschießungen?"
ZDF-Reporterin Katrin Eigendorf schildert ihre Eindrücke von den Massengräbern im ukrainischen Isjum.
16.09.2022 | 02:15 minUkrainische Politiker: Gefesselt oder mit Seil um den Hals begraben
Mehrere Leichen haben auf dem Rücken gefesselte Hände und ein Mensch wurde mit einem Seil um den Hals begraben.
Offensichtlich seien diese Menschen "gefoltert und hingerichtet" worden.
Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach von Folterspuren. Er teilte auf Telegram Fotos der Arbeiten an einer Gräberstätte in einem Waldstück bei Isjum. Einigen der Opfer seien Knochen gebrochen worden, andere hätten einen Strick um den Hals gehabt.
Kinder und Erwachsene. Zivilisten und Militärs. Gefoltert, erschossen, durch Beschuss getötet. Sogar ganze Familien sind dort begraben: Mutter, Vater und Tochter.
Die ukrainische Polizei hat eigenen Angaben zufolge mehrere Folterstätten gefunden. "Nach Balaklija oder Isjum kommend sehen wir eine riesige Zahl von Verbrechen, die an der Zivilbevölkerung verübt wurden", sagte Polizeichef Ihor Klymenko laut einer Mitteilung vom Freitag. Es seien zehn Folterkammern entdeckt worden.
Vermisstenbeauftragter: "Mehrzahl starb unter Beschuss"
Der Vermisstenbeauftragte Kotenko sagte allerdings, die Menschen in Isjum seien wohl gestorben, als Russlands Truppen die Stadt während der Eroberung Ende März heftig beschossen hätten. "Die Mehrzahl starb unter Beschuss, wir haben das den Daten nach bereits verstanden: Die Menschen kamen um, als sie (die Russen) die Stadt mit Artillerie beschossen", sagte Kotenko.
Die Bestattungsdienste hätten zum Teil nicht gewusst, wer die vielen toten Menschen seien. Deshalb stünden auf einigen Kreuzen nur Nummern. Gräber, die nicht namentlich gekennzeichnet seien, seien von Menschen, die "auf der Straße" gefunden wurden.
"Viele Menschen sind an Hunger gestorben", sagte Kotenko. "Dieser Teil der Stadt war abgeschnitten, es gab keine Versorgungsmöglichkeiten. Die Menschen waren eingeschlossen, nichts funktionierte." Derzeit bemühten sich die Behörden, ein Register mit den Fundorten der Leichen zu finden.
Die ukrainischen Angaben konnten zunächst nicht unabhängig geprüft werden.
Wie zuverlässig sind Angaben aus dem Ukraine-Krieg?
Viele Informationen, die uns aus dem Ukraine-Krieg erreichen, kommen von offiziellen russischen oder ukrainischen Stellen - also von den Konfliktparteien selbst. Solche Informationen sind deshalb nicht notwendigerweise falsch, aber zunächst nicht von unabhängigen Stellen überprüft. Eine solche Überprüfung ist wegen des Kriegsgeschehens oft nicht oder zumindest nicht unmittelbar möglich. Das ZDF trägt dieser Situation Rechnung, indem es Quellen nennt und Unsicherheiten sprachlich deutlich macht.
Zudem greifen die Informationsangebote des ZDF in ihrer Berichterstattung auf viele weitere Quellen zurück: Sie berichten mit Reportern von vor Ort, befragen Experten oder verweisen auf Recherchen anderer Medien. Zudem verifiziert ein Faktencheck-Team kursierende Aufnahmen und Informationen.
Warum werden dennoch Aussagen der Konfliktparteien zitiert?
Das ZDF ist in seiner Berichterstattung dem Grundsatz der Ausgewogenheit verpflichtet. Dazu gehört, grundsätzlich beide Seiten zu Wort kommen zu lassen. Gleichzeitig sehen wir es als unsere Aufgabe an, Aussagen auf Grundlage der vorliegenden Informationen einzuordnen und darüber hinaus - beispielsweise in Faktenchecks - Propaganda auch als solche zu entlarven und kenntlich zu machen.
Warum ist häufig von "mutmaßlich" die Rede?
Die Sorgfalt und Ausgewogenheit, denen das ZDF verpflichtet ist, beinhalten auch, sachliche Unwägbarkeiten transparent zu machen und Vorverurteilungen zu vermeiden. Ist ein Sachverhalt nicht eindeutig bewiesen, muss diese Unsicherheit offengelegt werden. Das geschieht in der Regel durch Formulierungen wie "mutmaßlich" oder "offenbar". Damit wird klar, dass zum Zeitpunkt der Berichterstattung aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse davon ausgegangen wird, dass sich ein Ereignis so zugetragen hat wie dargestellt, die letzte Gewissheit allerdings (noch) fehlt.
Das gilt zum Beispiel auch bei der Berichterstattung über Gerichtsprozesse: Eine Person gilt so lange als "mutmaßlicher Täter", bis ein Gericht ein rechtskräftiges Urteil gesprochen hat.
Am Donnerstagabend hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj von der Entdeckung eines "Massengrabs" in Isjum gesprochen. Selenskyj hatte Isjum mit Städten wie Butscha oder auch Mariupol verglichen. Der Vermisstenbeauftragte Kotenko sieht das anders:
Ich möchte das nicht Butscha nennen - hier wurden die Menschen, sagen wir mal, zivilisierter beigesetzt.
ZDF-Reporterin Eigendorf betont, man könne die Situation schon aus einem Grund nicht mit Butscha vergleichen: In Isjum und anderen Orten im Osten sei dafür gesorgt worden, dass die Leichen aufgesammelt und in die Erde gelassen wurden. "Von Begräbnis kann man nicht reden, die wurden einfach in der Erde verscharrt und dann Kreuze darauf gesetzt."
Ende März waren in dem Kiewer Vorort Butscha nach dem Abzug russischer Truppen Hunderte getötete Zivilisten teils mit Folterspuren gefunden worden. Butscha gilt seitdem als Symbol für schwerste Kriegsverbrechen im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine.
UN schicken Experten nach Isjum
Das Untersuchungsteam des UN-Menschenrechtsbüros in Genf will Isjum so schnell wie möglich aufsuchen, wie eine Sprecherin in Genf sagte. Der Fund sei schockierend und die Todesursache jedes einzelnen Verstorbenen müsse untersucht werden.
Die russischen Streitkräfte verließen Isjum und andere Teile der Region Charkiw in der vergangenen Woche angesichts einer Gegenoffensive der ukrainischen Truppen.
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Quelle: AFP, dpa, AP