: Türkei greift Ziele in Syrien und Irak an

20.11.2022 | 19:39 Uhr
Die Türkei hat Angriffe auf kurdische Stellungen in Syrien und im Irak geflogen. Das Verteidigungsministerium spricht von der "Stunde der Abrechnung" nach dem Anschlag in Istanbul.
Die Türkei hat kurdische Stellungen in Nordsyrien und im Nordirak aus der Luft angegriffen. Die Einsätze richteten sich gegen die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK und die syrische Kurdenmiliz YPG, teilte das Verteidigungsministerium mit.

Türkisches Verteidigungsministerium: "Stunde der Abrechnung"

Die türkische Regierung macht beide für den Bombenanschlag im Stadtzentrum von Istanbul verantwortlich, bei dem vergangene Woche sechs Menschen getötet und 31 weitere verletzt worden waren. PKK und YPG weisen die Anschuldigungen zurück.
Das Ministerium veröffentlichte auf Twitter ein Foto eines startenden Militärjets mit den Worten "Stunde der Abrechnung". In einer weiteren Twitter-Botschaft des Ministeriums hieß es: "Die Nester des Terrors werden durch Präzisionsschläge dem Erdboden gleichgemacht."
Tweet des türkischen Verteidigungsministeriums

Dutzende Tote und Verletzte

Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte wurden bei den Luftangriffen mindestens 31 Menschen getötet, darunter 18 Kämpfer des von kurdischen YPG-Einheiten angeführten Militärbündnisses SDF und zwölf Kämpfer der syrischen Regierungstruppen. 40 Menschen seien zudem verletzt worden. Die kurdischen Behörden gaben die Zahl der Toten mit mindestens 29 an. Im Nordirak gab es einem Beamten der autonomen Kurdenregion zufolge "keine Opfer".
Unter anderem bombardierte die türkische Luftwaffe der Beobachtungsstelle zufolge Orte in der Nähe von Kobane und Aleppo. Die türkische Armee habe auch mehrere Orte im Norden des Iraks angegriffen, meldete die Nachrichtenseite "Rudaw". Ziel seien etwa die Kandil-Berge gewesen. Dort hat die PKK ihr Hauptquartier.

Die Türkei gegen YPG und PKK

Die Türkei hat seit 2016 vier Militäroffensiven in Nordsyrien geführt, die sich auch gegen die syrische Kurdenmiliz YPG richteten. Ankara sieht in der YPG einen Ableger der verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK und betrachtet beide als Terrororganisationen.

Die USA kooperieren hingegen im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) mit der YPG, stufen die PKK aber als terroristisch ein. In Nordsyrien hält die Türkei infolge ihrer Militäreinsätze Grenzgebiete besetzt und kooperiert dabei mit Rebellengruppen.

Der Konflikt zwischen türkischen Streitkräften und PKK hat eine jahrzehntelange Geschichte und bisher Tausende Opfer gefordert - laut der Organisation International Crisis Group wurden dabei mehrheitlich PKK-Mitglieder und Verbündete getötet.

Dem türkischen Verteidigungsministerium zufolge wurden 89 Ziele wie Bunker, Tunnel und Munitionsdepots in Nordsyrien und im Nordirak "zerstört". Zudem seien "Terroristen in großer Zahl neutralisiert" worden. Verteidigungsminister Hulusi Akar sagte, auch "das sogenannte Hauptquartier der Terrororganisation" sei zerstört worden.

Erste Gegenangriffe gemeldet

SDF-Sprecher Farhad Schami twitterte, zwei Dörfer, in denen viele Vertriebene lebten, seien angegriffen worden. Elf Menschen seien ums Leben gekommen, ein Krankenhaus, ein Kraftwerk und Getreidesilos seien zerstört worden.
SDF-Sprecher Farhad Schami berichtet über Twitter
In einer Erklärung der SDF hieß es später, die Angriffe würden nicht ohne Reaktion bleiben. Zum richtigen Zeitpunkt und am richtigen Ort werde es "eine Reaktion auf starke und effektive Art" geben.
Am Abend meldeten türkische Staatsmedien dann einen Raketenbeschuss in der Türkei nahe der syrischen Grenze. Zwei Soldaten und sechs Polizisten seien verletzt worden. Die Rakete sei von YPG abgefeuert worden, hieß es.

Luftangriffe mit dem Völkerrecht vereinbar?

Das Verteidigungsministerium in Ankara berief sich auf das Recht zur Selbstverteidigung laut Charta der Vereinten Nationen. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags hatte in der Vergangenheit bei ähnlichen Einsätzen allerdings bezweifelt, dass diese mit dem Völkerrecht vereinbar seien. Experten hatten bereits vermutet, dass die türkische Regierung den Bombenanschlag als Anlass für eine neuerliche Offensive in Nordsyrien nehmen könnte.
Die prokurdische Partei HDP in der Türkei verurteilte die Angriffe scharf. Die Regierung nutze den Anschlag in Istanbul als Vorwand, um gegen Kobane vorzugehen, das mit seinem "epischen Widerstand" gegen den IS "die Unterdrückten dieser Welt inspiriert" habe, hieß es.

Grüne und Linke fordern von Türkei Stopp der Angriffe

Grüne und Linke haben von der Türkei einen Stopp der Angriffe gefordert. Die Angriffe der türkischen Luftwaffe seien völkerrechtswidrig, erklärten die Grünen-Außenpolitiker Jürgen Trittin und Max Lucks am Sonntag in Berlin. Der Verweis auf den Bombenanschlag in Istanbul und das Recht auf Selbstverteidigung änderten daran nichts.
Der Bundesausschuss der Linken rief zur Solidarität mit den Kurden auf. "Wir fordern eine klare Verurteilung der Angriffe durch das deutsche Außenministerium, ein Ende der Kriminalisierung der kurdischen Freiheitsbewegung in Deutschland, einen Stopp der Rüstungsexporte in die Türkei und Druck auf die Türkei, diese Angriffe sofort zu unterlassen", erklärte die Linke.
Quelle: dpa, AFP, Reuters, AP

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