Wladimir Putin galt immer als kühler und berechnender Stratege. Doch im Ukraine-Konflikt scheint der russische Präsident völlig verändert. Immer mehr Fachleute treibt deshalb die Frage um, wie es eigentlich um Putins psychische Verfassung bestellt ist.
04.03.2022 | 03:12 min
"Putin hat ein tiefsitzendes Bedürfnis, nicht zu kapitulieren gegenüber allen Versuchen, ihn unter Kontrolle zu bringen." Dieses Zitat stammt von einem Experten, der sich wie kaum ein anderer mit der Psyche von
Wladimir Putin beschäftigt hat.
Detailliertes Profil von Machthabern
Der Psychologe Jerrold Post ist zwar im November 2020 verstorben, aber seine Analyse bildet heute noch die Grundlage für die Einschätzung des russischen Präsidenten durch die US-Regierung.
Post war einer der Mitbegründer und langjähriger Leiter des "Zentrums für die Analyse von Persönlichkeit und politischem Verhalten" bei der CIA.
Vom unscheinbaren KGB-Agenten zum skrupellosen Kriegsherrn: "ZDFzoom" zeigt Wladimir Putins Weg zur Macht, lässt Rivalen, Weggefährten und hochrangige Politiker zu Wort kommen.
10.03.2022
Seit Ende der 1970er Jahre erstellt der US-Geheimdienst detaillierte Profile von Anführern fremder Mächte, um die amerikanische Regierung in ihrem Umgang mit Spitzenpolitikern und despotischen Machthabern rund um den Erdball zu beraten.
Analyse aller verfügbaren Informationen
Jerrold Post und sein Team bei der CIA, darunter Psychologen, Anthropologen, Sozial- und Politikwissenschaftler, gründeten ihre Bewertungen auf ein ganzheitliches Bild einer Person in ihren zeitlichen, familiären, kulturellen und gesellschaftlichen Zusammenhängen.
Sie analysierten Anführer anhand aller verfügbaren Informationen, darunter natürlich auch öffentliche Auftritte, Reden, schriftliche Äußerungen der jeweiligen Beobachtungsobjekte.
Dabei ging es am Ende nicht in erster Linie um eine psychiatrische Diagnose, sondern um ein politisches Persönlichkeitsprofil, um das Verhalten von Anführern besser einzuschätzen und vorherzusagen.
Analyse über Donald Trump
Im Jahr 2019 beging Jerrold Post einen Tabubruch. Weil er
Donald Trump für eine große Gefahr hielt, veröffentlichte er seine Analyse über den früheren US-Präsidenten in dem Buch "Dangerous Charisma".
Was andere Psychologen als Verstoß gegen die Berufsethik sahen, rechtfertigte Post als Warnung, zu der Wissenschaftler verpflichtet seien, wenn die Gefahr durch politische Führer zu groß werde.
Ein Beispiel dafür sei der irakische Diktator Saddam Hussein. Die Studie des Profiler-Teams der CIA floss in die Reaktion der US-Regierung auf den Einmarsch irakischer Truppen in Kuwait und den darauffolgenden Krieg gegen den Irak mit ein.
Einschätzung des US-Geheimdienstes zu Wladimir Putin
Post schrieb in einem Kapitel seines Buchs auch über die Einschätzung des US-Geheimdienstes zu Wladimir Putin. Putin sei ein "Narzisst", ein "brutaler rücksichtsloser Diktator" mit "extrem kalkulierendem Naturell", der "penibel pseudo-legale Rechtfertigungen für seine Taten fabriziert".
Der russische Präsident sei besessen von "Maskulinität, Größe, Stärke und Macht" und "kompensiert seine unterschwellige Unsicherheit mit übertriebener Gegenwehr".
Rechtfertigung des Ukraine-Krieges
Wer die Bilder von Putins einstündiger Rede zur Rechtfertigung des
Einmarschs in die Ukraine gesehen hat, fühlt sich an folgenden Satz aus Posts Analyse erinnert:
Putin sehnt sich danach, als respektierter Weltenführer anerkannt zu werden, und er versteht, dass für diesen Respekt seine Taten rational und legitim erscheinen müssen.
Jerrold PostDeshalb die historischen und rechtlichen Verweise in seiner abstrusen Kriegserklärung gegen das angebliche "Naziregime" in Kiew.
Alarmbereitschaft der Atomkräfte
Zum Auftritt des russischen Präsidenten mit seinem Generalstabschef und seinem Verteidigungsminister am Ende des überlangen Tisches, bei dem er die
Alarmbereitschaft der Atomkräfte anordnet, passt die Einschätzung, Putin habe immer wieder "seinen Willen gezeigt, seine Macht und seinen Einfluss um jeden Preis zu verteidigen", es gebe "keine militärischen oder politischen Anführer in seinem Führungskreis, die ihn zurückhalten" könnten.
Wohlgemerkt diese Sätze des CIA-Psychologen stammen aus dem Jahr 2019.
Reaktion des Westens auf Putin
Post war überzeugt, dass Putin bei Kritik gegen ihn auf keinen Fall als nachgiebig wahrgenommen werden wolle, er reagiere "nur auf Gewalt" und handele nach der leninistischen Maxime:
Wenn Du auf Stahl stößt, zieh Dich zurück, wenn Du auf Brei stößt, mach weiter.
Leninistische MaximeDeshalb habe der russische Präsident alles darangesetzt, die Risse in der amerikanisch-europäischen Allianz zu vertiefen.
So lange ist Putin schon an der Macht
Seit wann Wladimir Putin die Geschicke Russlands leitet:
Quelle: dpa/kremlin pool, Archivbild1999: Putin übernimmt von Jelzin
Im August ernennt Präsident Boris Jelzin Putin zum Premierminister und schlägt ihn als nächsten Präsidenten vor. Als Jelzin am 31. Dezember überraschend zurücktritt, übergibt er an Putin.
Quelle: bpb, Haus der Geschichte; dpa/Tass, Archivbild2000: Putins erste Wahl
26. März: Wladimir Putin wird zum Präsidenten der Russischen Föderation gewählt.
Quelle: bpb; Foto: dpa/Tass pool, Archivbild2004: Putins Wiederwahl
Putin wird zum zweiten Mal zum Präsidenten gewählt. Wahlbeobachter kritisieren, dass nicht alle Prinzipien einer demokratischen Wahl eingehalten worden seien.
Quelle: Stiftung HdG; Foto: dpa/Tass, Archivbild2008: Dmitri Medwedew wird Präsident
Medwedew löst Putin ab. Die Verfassung erlaubt damals nur zwei Amtszeiten in Folge. Putin wird Ministerpräsident, behält aber laut Kritikern weiterhin Kontrolle über die Regierungsgeschäfte.
Quelle: lpb Baden-Württemberg, Stiftung Haus der Geschichte; Foto: dpa/Vladimir Rodionov, Archivbild2012: Putin wird wieder Präsident
Putin wird nach vier Jahren Pause zum dritten Mal zum Präsidenten gewählt. Die Amtsperiode wird von vier auf sechs Jahre verlängert. Laut Wahlbeobachtern war die Wahl weder frei noch fair.
Quelle: bpb, HdG; Foto: dpa/Vladimir Rodionov, Archivbild2018: Putins vierter Wahlsieg
Putin wird zum vierten Mal zum Präsidenten gewählt.
Quelle: Foto: dpa/Sputnik Kremlin, Archivbild2020: Putin sichert sich die Macht
Eine Verfassungsreform gibt Putin die Möglichkeit für zwei weitere Amtszeiten. So kann er bei Wiederwahlen bis 2036 im Amt bleiben.
Quelle: bpb; Foto: dpa/Alexei Druzhinin, Archivbild
Es sei deshalb unabdingbar, dass "der Westen mit einer Stimme" spreche, um ihn aufzuhalten: "Putin wird nur abgeschreckt von seinem Vormarsch, wenn er auf eine starke und stählerne Antwort von einem geeinten Westen trifft."
Aktuelle Einschätzung ist streng geheim
Dieser Satz könnte das Motto für
US-Präsident Biden gewesen sein, monatelang auf Sanktionen durch die Vereinigten Staaten zu verzichten, um die Geschlossenheit von
NATO,
EU und G7 gegenüber Putin nicht zu gefährden.
Öffentlich weicht die amerikanische Regierung Fragen nach dem Verhalten des Kremlchefs aus:
Ich habe keine Einschätzung, wie Präsident Biden Putins Geistesschärfe beurteilt,
Jen Psaki, Pressesprecherin Weißes Hausso die Pressesprecherin des Weißen Hauses Jen Psaki.
Außenamtssprecher Ned Price sagte: "Es ist nicht nützlich, produktiv oder gar möglich, in Präsident Putins Kopf zu schauen." Dafür ist allein das "Zentrum für die Analyse von Persönlichkeit und politischem Verhalten" bei der CIA zuständig - und dessen aktuelle Einschätzung ist natürlich streng geheim.
Aktuelle Meldungen zu Russlands Angriff auf die Ukraine finden Sie jederzeit in unserem Liveblog: