Mehr als ein halbes Jahr nach dem Einmarsch in die Ukraine haben Dutzende Lokalpolitiker den Rücktritt von Kremlchef Putin gefordert. "Es ist ein wichtiger Hinweis, dass sich Einzelne trauen, das überhaupt zu sagen", so Osteuropa-Experte Wilfried Jilge.
13.09.2022 | 04:07 min
Die
Rückschläge der russischen Armee im Osten der Ukraine infolge der ukrainischen Gegenoffensive bringt die russische Staatspropaganda in Erklärungsnöte. Seit Kriegsbeginn versuchen Kommentatoren und Talkshow-Gäste sich mit siegessicheren und nationalistischen Reden zu übertrumpfen.
Doch seit dem Wochenende ist die Stimmung merklich gedämpft. Eine Gruppe von Lokalpolitikern fordert jetzt sogar den Rücktritt von
Präsident Wladimir Putin.
Die ukrainische Armee hat nach eigenen Angaben mehr als 6.000 km² zurückerobert. Präsident Selenskyj hat Russland vorgeworfen, aus Rache gezielt zivile Infrastruktur zu zerstören.
13.09.2022 | 00:22 min
Ex-Abgeordneter: Putin-Berater "haben uns alle hereingelegt"
Dass es für Russland nicht gut läuft in der
Ukraine kann immer seltener ausgeblendet werden. "Wir sollten beten, dass unsere Männer dort durchhalten", schloss etwa Moderator Anton Anisimow seine Talksendung auf dem russischen Sportsender Match TV am Freitag.
Während die Siegesgewissheit schwindet, nimmt offene Kritik in den russischen Medien zu. Weniger am Krieg selbst, sondern vor allem an der Art, wie ihn Regierung und Militär führen. Im Sender NTV, der zum
Staatskonzern Gazprom gehört, geht der frühere Parlamentsabgeordnete und häufige Talkshowgast Boris Nadeschdin hart mit dem Umfeld von Präsident Putin ins Gericht.
Die Berater hätten dem Präsidenten eingeredet, dass die Ukraine schnell aufgeben würde. "Sie haben uns alle hereingelegt", sagte Nadeschdin. Kritik an Putin selbst bleibt für Nadeschdin jedoch ein Tabu.
Es ist absolut unmöglich, die Ukraine mit diesen Mitteln und Kolonialkriegsmethoden zu besiegen.
Boris Nadeschdin im russischen Sender NTVDer TV-Journalist Dimtri Kisseljow sagte zu Beginn seiner Sendung am Sonntagabend, dass es "eine äußerst schwierige Woche an der Front" gewesen sei.
Die Zeitung "Nesawissimaja Gaseta" merkte kritisch an, das Verteidigungsministerium habe sich über mehrere Tage hinweg nicht zu den "extrem verstörenden Nachrichten aus der Ukraine" geäußert. Das Blatt hielt auch fest, dass ukrainische Truppen auf Russlands Grenze vorrückten, während Russlands Militärführung derzeit Tausende Kilometer entfernt bei Großmanövern im Fernen Osten zugegen sei.
Lokalpolitiker fordern Putins Rücktritt
Die deutlichste Reaktion auf das militärische Fiasko in der Ukraine kommt von einer wachsenden Gruppe von russischen Lokalpolitikern. Ein Schreiben mit inzwischen Dutzenden Unterstützern wurde von der Sankt Petersburger
Bezirksrätin Xenia Torstrem auf Twitter veröffentlicht. Darin fordern sie Putins Rücktritt:
Wir glauben, dass die Handlungen von Präsident Wladimir Putin Russlands Zukunft und seinen Bürgern schaden. Wir fordern den Rücktritt von Wladimir Putin vom Amt des Präsidenten der Russischen Föderation!
Petition von russischen LokalpolitikernÜber ein Onlineformular können sich Kommunalpolitiker auf die Liste der Unterstützer eintragen. Es kämen ständig weiter neue Unterstützer hinzu, schrieb die Abgeordnete Torstrem am Dienstagmorgen auf Twitter. Ihren Angaben zufolge hätten sich inzwischen mehr als 40 Lokalpolitiker aus insgesamt 18 Bezirken Sankt Petersburgs und Moskaus angeschlossen.
Korrespondentin Phoebe Gaa berichtet von ersten kritischen Stimmen in Russland zum Ukraine-Krieg. Auch würden erstmals Talkshow-Gäste, obwohl verboten, von "Krieg" sprechen.
12.09.2022 | 02:16 min
"Gute Reformen, aber danach ging alles schief"
Bereits in der vergangenen Woche hatten mehrere Moskauer Politiker ein ähnliches Rücktrittsgesuch an Putin gerichet. "Lieber Wladimir Wladimirowitsch", heißt es in dem Schreiben der Abgeordneten des Lomonossow-Bezirks: "Sie hatten in der ersten und teilweise in der zweiten Amtszeit gute Reformen, aber danach ging irgendwie alles schief."
Putins Rhetorik sei von "Intoleranz und Aggression" durchsetzt und werfe Russland zurück in die Zeit des Kalten Kriegs, kritisierten die Unterzeichner weiter.
Wir bitten Sie (...), Ihren Posten zu räumen, da Ihre Ansichten und Ihr Führungsmodell hoffnungslos veraltet sind.
Schreiben von Abgeordneten des Lomonossow-DistriktsAuch der dem Kreml nahestehende tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow kritisierte zuletzt "Fehler" des russischen Verteidigungsministeriums.
Kann die Kritik Putin gefährlich werden?
Putin selbst muss solche Protestaktionen bislang wenig fürchten. Bei den
Regionalwahlen am Wochenende fuhr seine Partei Einiges Russland wie erwartet einen Sieg ein. Oppositionelle Kandidaten waren kaum zugelassen.
Für den Russland-Experten und früheren CDU-Mitarbeiter Nico Lange ist der Protest jedoch ein Beleg, dass die russische Propaganda nicht funktioniere:
Jeder in Russland versteht, dass das ein militärischer Misserfolg ist.
Russland-Experte Nico Lange"Es ist besonders bemerkenswert, dass sogar im staatlichen Fernsehen, also einem Medium, das einer sehr, sehr intensiven Kontrolle unterliegt, jetzt abweichende Meinungen zu den vorherigen geäußert worden sind. Also es tut sich was in Russland", sagt Lange in ZDFheute live:
Im russischen Staatsfernsehen wird offen über Verhandlungen gesprochen, Politiker fordern Putins Rücktritt. Die Propaganda funktioniere nicht mehr, so Russlandexperte Nico Lange.
12.09.2022 | 11:13 min
Berichte: Ermittlungen gegen mehrere Petersburger Politiker
Für die Unterzeichner können solche Aktionen wiederum Konsequenzen haben. Seit dem Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar geht Russlands Justiz besonders hart gegen Oppositionelle und Andersdenkende vor.
Medienberichten zufolge laufen etwa bereits Ermittlungen gegen mehrere Petersburger Politiker, die kürzlich eine Anklage Putins wegen Hochverrats forderten - mit Blick auf den von ihm angeordneten Krieg. Ihnen wird nun die "Diskreditierung" von Russlands Streitkräften vorgeworfen - darauf drohen Jahre im Straflager.
Wie die russische Staatspropaganda gegensteuert
Die russische Staatspropaganda versucht unterdessen dem fluchtartigen Teilabzug aus der Region Charkiw in Folge der Gegenoffensive einen neuen "Spin" zu geben: Es handle sich um eine "taktische Umgruppierung". Die ukrainischen Truppen seien zahlenmäßig in der Überlegenheit gewesen. Russlands Statthalter für Charkiw, Witali Gantschew, verwies im Nachrichtensender Rossija 24 auf angebliche westliche Söldner.
Andere Stimmen verbreiten Durchhalteparolen oder schlachten weitgehend symbolische Aktionen des russischen Militärs aus. Darunter etwa die Bombardierung ukrainischer Kraftwerke und die daraus resultierenden großflächigen Stromausfälle im Osten der Ukraine in der Nacht zu Montag.
Die Talkshow-Gastgeberin Olga Skabejewa eröffnete damit ihre tägliche Sendung am Montag - und versuchte so ein Narrativ von einem angeblichen "Wendepunkt" in der Militäroperation zu konstruieren.
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Quelle: Mit Material von Reuters, AP, dpa