: Die Nato, Putin und die Kriegs-Verantwortung
von Mirko Drotschmann
03.04.2022 | 09:02 UhrIn der Terra-X-Kolumne auf ZDFheute beschäftigen sich ZDF-Wissenschaftsjournalistinnen und -journalisten wie Harald Lesch, Mirko Drotschmann und Jasmina Neudecker jeden Sonntag mit großen Fragen der Wissenschaft - und welche Antworten die Forschung auf die Herausforderungen unserer Zeit bietet.
März 2000: Der frischgebackene russische Präsident Wladimir Putin sitzt zurückgelehnt in einem bequem gepolsterten Sessel, ihm gegenüber BBC-Starmoderator David Frost. Das erste große Interview des russischen Präsidenten in einem westlichen TV-Sender verläuft geradezu freundschaftlich. Frost kommt schnell auf den Punkt: "Ist es möglich für Russland, Teil der Nato zu werden?". Putin ohne Zögern: "Ich wüsste nicht, warum nicht".
September 2001: Im Ausland hofiert man den jungen Spitzenpolitiker Putin, der so ganz anders wirkt als die postsowjetischen Apparatschiks der 1990er Jahre - was ihm unter anderem eine Einladung in den Bundestag beschert. Dort steht Wladimir Putin am 25. September und spricht von einem "lebendige[n] Herz Russlands, welches für eine vollwertige Zusammenarbeit und Partnerschaft geöffnet ist." Das Protokoll vermerkt "anhaltenden Beifall", die Abgeordneten erheben sich.
Beifall für Putin im Bundestag inzwischen unwirklich
Standing ovations für Wladimir Putin im Bundestag? Kaum zu glauben. Das ernsthafte Interesse an einer Nato-Mitgliedschaft, das Angebot zur Mitarbeit an einer neuen europäischen Sicherheitsstruktur - alles aus heutiger Sicht irgendwie unwirklich. Ist das derselbe Wladimir Putin, der Ende Februar 2022 seiner Armee den Befehl gegeben hat, einen souveränen Nationalstaat anzugreifen, nachdem er ihm zuvor de facto das Existenzrecht abgesprochen hatte?
2001 verkündet Putin im deutschen Bundestag seinen Willen zu Annäherung an Europa. 20 Jahre später wird er vom Westen als machthungriger Aggressor und als Gegengewicht einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung wahrgenommen. Warum haben Putin und Deutschland eine solch komplexe Beziehung?
27.02.2022Kaum vorstellbar. Und doch Realität. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs gab es in Russland immer wieder ernsthafte Bestrebungen, Teil des westlichen Sicherheitssystems zu werden. Zuerst Gorbatschow, dann Jelzin und letztendlich Putin - sie alle zeigten sich ehrlich bemüht. Geklappt hat es bekanntlich nicht.
Radikaler Kurswechsel von Putin
Die Nato wuchs zwar in Richtung Osten, aber ohne Russland. Dessen Wunsch nach einer Behandlung auf Augenhöhe wurde nicht erfüllt, stattdessen musste Wladimir Putin sich "in eine Reihe mit anderen unwichtigen Ländern stellen", wie er es selbst einmal formulierte.
Das Ergebnis ist bekannt: Putin war zunehmend genervt vom Wachstum der Nato. Es folgten ein radikaler Kurswechsel und eine zunehmende Konfrontationshaltung, die in eine bedrohliche Offensive überging. Das Zurückdrängen der Nato gilt als eines der Hauptmotive Putins für den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine.

Für Kreml-Chef Putin dient sie als Begründung und Rechtfertigung im Krieg gegen die Ukraine: Russlands Geschichte und imperiale Tradition. Basiert das auf historischen Fakten?
13.03.2022 | 43:31 minNato-Osterweiterung kein Völkerrechts-Bruch
Hätte sich die Nato damals kooperativer verhalten, wäre der Putin heute wie 2001: pro-westlich, vielleicht sogar Präsident eines Nato-Mitgliedsstaats, liest man deshalb immer wieder. Der Angriff auf die Ukraine, so die Schlussfolgerung, ist zu großen Teilen die Schuld der Nato, insbesondere die der USA.
Hält diese These einer historischen Überprüfung stand? Definitiv nicht. Selbst wenn man die Nato-Osterweiterung gegenüber Russland partnerschaftlicher hätte kommunizieren können, vielleicht sogar müssen, stellt sie keinen Bruch völkerrechtlicher Vereinbarungen dar.
Ist die "moderne Ukraine vollständig von Russland geschaffen" worden, wie Putin behauptet?
13.03.2022 | 44:59 minGrenzen der Ukraine 1994 von Russland anerkannt
Zentral ist dabei die Nato-Russland-Grundakte aus dem Jahr 1997. Darin sichert Russland den neuen unabhängigen Staaten Osteuropas die freie Bündniswahl zu - ohne selbst mit einbezogen werden zu müssen. Schon 1994 hatte man außerdem im "Budapester Memorandum" über den Status der Ukraine eine verbindliche Erklärung unterzeichnet. Darin erkennt Russland die Grenzen des Landes an, das im Gegenzug atomwaffenfrei wurde.
Putin hat kürzlich behauptet, dass die Ukraine in Wahrheit eine künstlich geschaffene US-Kolonie sei, um Russland drohen zu können. Mitnichten! Russland hatte vielmehr an der Etablierung der souveränen Ukraine aktiv mitgewirkt.
Kritik am doppelzüngigen Verhalten des Westens
Es stimmt: Russland wurde in den ersten Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion teilweise übel mitgespielt. Das häufig erwähnte mündliche Versprechen, die Nato nicht nach Osten zu erweitern, hat es zum Beispiel laut Aktenfunden tatsächlich gegeben. In völkerrechtlich bindende Verträge wurde dieses Versprechen allerdings nicht aufgenommen.
Wer dieses doppelzüngige Verhalten des Westens kritisiert, hat zweifelsfrei Recht. Wer aber noch weitergeht und der Nato deshalb auch die Verantwortung für den Überfall Russlands auf die Ukraine in die Schuhe schiebt, liegt falsch. Putin wollte sein neues mächtiges Russland, von dem er schon im BBC-Interview 2000 gesprochen hatte, um jeden Preis aufbauen. Ob mit oder ob ohne den Westen.
Putin und russische Regierung tragen die Verantwortung
Die Verantwortung für die Folgen dieser Strategie, und in letzter Konsequenz auch für die vielen Toten in der Ukraine, tragen Putin und seine Regierung selbst. Er nutzt dafür die Geschichte seines Landes als Waffe. Erinnert zum Beispiel an Peter den Großen, der Russland zur Industrie- und Weltmacht formte. Und bezeichnet den Zusammenbruch der Sowjetunion als "größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts".
Im Krieg gegen die Ukraine bescheren diese Sicht auf die Geschichte und das kompromisslose Machtstreben Putins viel Leid und Zerstörung. Vor allem damit werden Putin und seine Regierung in den Geschichtsbüchern der Zukunft erwähnt werden.
Mirko Drotschmann ...
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