: Putins Angst vor dem Niedergang Russlands

von Ivan Krastev
29.05.2022 | 09:00 Uhr
Für Wladimir Putin sind Russen und Ukrainer dasselbe Volk. Und damit begann die Tragödie. Der Kampf richtet sich für den russischen Präsidenten gegen den Westen.
Quelle: IWM/Klaus Ranger
In der Terra-X-Kolumne auf ZDFheute beschäftigen sich ZDF-Wissenschaftsjournalistinnen und -journalisten wie Harald Lesch, Mirko Drotschmann und Jasmina Neudecker sowie Gastexpert*innen jeden Sonntag mit großen Fragen der Wissenschaft - und welche Antworten die Forschung auf die Herausforderungen unserer Zeit bietet.
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wussten weder die Russen noch Ukrainer, wer sie waren. Beide mussten ihre Identitäten neu schaffen. Eine Identität des Staates, aber auch ihre persönlichen Identitäten. Man hatte ja vieles gemeinsam: die Sprache, die Religion.

Ukrainer entwickelten eigene Identität

Dieser politische Prozess kam über die Jahre mehr und mehr ins Rollen und die Ukrainer entwickelten ihre eigene, ukrainische Identität. Das ist auch der Grund dafür, dass sich die Ukrainer jetzt so unglaublich hart und tapfer verteidigen. Man kämpft umso leidenschaftlicher mit denen, die einem besonders nahestehen und will gerade denen klar machen, wer man ist. Und darum geht es in diesem Krieg.

Politologe Ivan Krastev und der Philosoph Richard David Precht bringen es auf den Punkt: Darum handelt Putin so widersprüchlich und gnadenlos.

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Russlands Präsident Wladimir Putin hat das überhaupt nicht verstanden. Im Gegenteil: Er sagt seinem eigenen Volk: Ihr kämpft nicht gegen die Ukrainer. Ihr kämpft gegen den Westen. Ihr kämpft gegen die Vereinigten Staaten von Amerika. Wenn Russen gegen Ukrainer kämpfen, dann sind Ukrainer und Russen nicht mehr dasselbe Volk. Putins Narrativ würde zusammenbrechen.

Putin will Grenzen und Identitäten festlegen

Das Ende des Kommunismus war für die Russen aus Putins Generation sicher keine persönliche Tragödie. Und auch nicht für Putin selbst und seinesgleichen. Keine Tragödie, aber doch ein Problem. Denn es war ihr Land und es gab das Versprechen, dass sie auf dem post-sowjetischen Territorium eine Sphäre des Einflusses haben würden.
Dieses Versprechen will Putin jetzt einlösen. Putin ist ein alternder Herrscher im Kampf gegen die Zeit. Er selbst kann sich ein Russland nach Putin nicht vorstellen. Deshalb nimmt er die Dinge selbst in die Hand. Er will Grenzen und Identitäten nach seinen Vorstellungen festlegen.
In Russland gibt es keine festgelegte Nachfolgeregelung wie in anderen Autokratien, wo zum Teil ganze Familien Teil der regierenden Kaste sind. Für Putin kommen weder Tochter noch Schwiegersohn als Nachfolger in Frage. Er muss es selbst regeln.

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Putin fürchtet demographisches Problem in Russland

Daneben fürchtet Putin auch ein demographisches Problem in Russland: Die Geburtenraten im Land sind niedrig und allein durch Covid hat Russland eine Million Menschen verloren. Nach seiner Meinung ist eine Möglichkeit, wieder aufzuholen, indem man die Ukrainer zu Russen macht.
Dieser demographische Aspekt des Ukraine-Kriegs wird noch gar nicht diskutiert. Allein in den vergangenen sechs Monaten hat Putin dreimal - ungefragt - denselben Satz gesagt: Hätte es die Revolution nicht gegeben und den Zweiten Weltkrieg auch nicht und wäre die Sowjetunion nicht auseinandergefallen, dann gäbe es heute 500 Millionen Russen in der Welt.

Europa seit 1990 als Labor für die zukünftige Welt

Aber es geht nicht nur um Russland. In den westlichen Ländern - nicht nur in Deutschland - glaubte man fest an die Doktrin, dass wirtschaftliche Verflechtung Sicherheit garantiert und militärische Macht damit weniger wichtig wird. Alle glaubten daran, dass soft power, nämlich die Attraktivität unserer Gesellschaften, die meisten Probleme lösen könnte. Die Russen dagegen glauben, dass der Westen die Attraktivität der Gesellschaft als Waffe benutzt. Und ihre eigene Waffe, an die sie zumindest bis zum Krieg in der Ukraine glaubten, war die militärische Macht.
Europa selbst sah sich nach dem Ende des Kalten Krieges als Labor für die zukünftige Welt. Die typischen Merkmale Europas, nämlich geteilte Souveränität, ökonomische Verflechtung, Überwindung des Nationalstaats - all dies solle später auch in anderen Ländern kommen.

Mit Russen sprechen - ohne Schuldgefühle

Jetzt müssen die Europäer erkennen, dass viele Länder dieses Europa eher als Ausnahme sehen und nicht als ein universelles Modell. Offensichtlich träumen weder China noch Indien noch Südafrika davon, dieses Modell anzunehmen. Es geht nicht mehr so sehr um die Beziehungen Europas zu den Vereinigten Staaten oder Russland. Es geht darum zu verstehen, welches der Platz unserer europäischen Gesellschaften in einer veränderten Welt ist.
Putin wird seine Politik gegenüber Europa und der westlichen Welt vermutlich nicht ändern. Dennoch sollten wir versuchen, möglichst genau zu verstehen, was die Russen denken, die ihn unterstützen, und die, die ihn ablehnen. Wir sollten auch mit den Russen sprechen, die hier im Westen sind - ohne ihnen Schuldgefühle zu geben. Aber sie sollten sich erklären. Die Neugier zu verlieren ist das Schlimmste, was passieren kann. Das Ende ist dann Arroganz und die führt zu nichts.

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Ivan Krastev ...

... ist ein bulgarischer Intellektueller und Politikwissenschaftler. Er leitet das Centre for Liberal Strategies in Sofia. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte sind Europa und die Demokratie-Forschung. Er arbeitet unter anderem als Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien. Diese Kolumne entstand im Nachgang der Sendung "Precht" am 12.5.2022.

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