: Warum Polen so zurückhaltend reagiert hat

von Thomas Dudek
16.11.2022 | 15:26 Uhr
Auf den Raketeneinschlag in einem Dorf an der ukrainischen Grenze reagierte die polnische Regierung überraschend zurückhaltend. Dahinter steckt auch sicherheitspolitisches Kalkül.
Gerade einmal knapp über 500 Einwohner hat die Ortschaft Przewodów. Doch seit Dienstagnachmittag, als sich dort um 15:40 Uhr in einem landwirtschaftlichen Betrieb eine Explosion ereignete, bestimmt das Dorf unweit der polnisch-ukrainischen Grenze nicht nur die polnische und internationale Politik, sondern auch weltweit die Schlagzeilen.
Verursacht wurde die Explosion, bei der zwei Personen ums Leben gekommen sind, durch Raketeneinschlag. Es war das erste Mal seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine im Februar dieses Jahres, dass mit Polen auch ein Nato-Land, wenn wohl auch irrtümlich, unmittelbar Teil des Krieges wurde.

Duda wartete Ermittlungen ab

Zu Schuldzuweisungen ließ sich die polnische Regierung nicht hinreißen. Stattdessen wartete Staatspräsident Andrzej Duda zunächst die Ermittlungen ab und ordnete den Vorfall dann ähnlich ein wie die US-Regierung.
Nichts deutet darauf hin, dass es sich um einen bewussten Angriff auf Polen handelte.
Andrzej Duda, polnischer Staatspräsident
"Momentan haben wir keinen Beweis dafür, dass die Rakete von der russischen Seite angefeuert wurde", erklärte Staatspräsident Duda erst heute Mittag nach einer weiteren Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates und räumte ein, dass es sich wahrscheinlich um eine Flugabwehrrakete handelt, "die unglücklicherweise auf das Territorium Polens gestürzt sei".
Noch in der Nacht sprach Duda in einer Stellungnahme von einer Rakete russischer Produktion des Typs S-300 aus den 1970er Jahren, verwies aber darauf, dass man ansonsten die weiteren Ermittlungen abwarten sollte.

Polen-Experte: Politik reagierte "besonnen und bedacht"

Die zurückhaltende Position der polnischen Regierung mag durchaus überraschen. Vor allem wenn man bedenkt, dass sich im Alltag weder die regierenden Nationalkonservativen, noch die Opposition vor einer martialischen Sprache scheuen. Auch nicht außenpolitisch, wie beispielsweise die regelmäßigen Vorwürfe des PiS-Vorsitzenden Jarosław Kaczyński gegen die EU, die sich zum Teil wie eine Kriegserklärung anhören, zeigen.
"In der Tat waren die Reaktionen auf diesen Vorfall bis auf wenige Ausnahmen besonnen und bedacht", sagt der Politikwissenschaftler Adam Traczyk ZDFheute. "Besonders hervorzuheben ist die Rolle des Staatspräsidenten Duda, der schnell die Initiative ergriffen und unverzüglich Konsultationen mit Polens Nato-Verbündeten, unter anderem mit US-Präsident Joe Biden, geführt hat", so Traczyk, der Associate Fellow bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin ist.
"Es ist nicht das erste Mal, dass Duda während des Krieges außenpolitisch die Führungsrolle übernimmt und auch die richtigen Worte nach außen findet", erläutert Traczyk.

Opposition reagiert ebenfalls zurückhaltend

Besonnen reagierte aber nicht nur die Regierung, sondern auch die Opposition. "In der Situation der Gefahr, unabhängig von den innenpolitischen Streitigkeiten und Unterschieden, müssen wir alle vereint und solidarisch sein. In der schweren Stunde werden wir zusammenstehen", twitterte noch am gestrigen Abend Oppositionsführer Donald Tusk.
"Vor dem Hintergrund des Krieges zeigten die polnischen politischen Eliten schon mehrfach, unabhängig ihrer politischen Couleur, dass sie ihre Differenzen beiseitelegen können", erläutert Traczyk.

Polens Rollen als Troublemaker und Problemlöser

Es ist eine Besonnenheit, die jedoch auch einen außenpolitischen Aspekt hat. "Während Polen europapolitisch sehr häufig als 'Troublemaker' Schlagzeilen macht, versucht man sicherheitspolitisch als Problemlöser zu agieren. So ist es auch in diesem Fall. Die vielen Gespräche mit Staatschefs und Ministern verschiedener Nato-Staaten zeigen, dass Polen an Alleingängen nicht interessiert ist und stets eine enge Koordinierung mit ihren Verbündeten sucht", erklärt Traczyk.
Praktisch bewiesen hat dies auch Ministerpräsident Mateusz Morawiecki. Als dieser am heutigen Mittag verkündete, dass der Artikel 4 der Nato, also eine Krisensitzung der Partner, "wegen fehlender Beweise" auf einen Angriff nicht ausgelöst wird, betonte er noch einmal die enge Zusammenarbeit mit den Bündnispartnern.
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