Interview

: Keupp: "Verteidigung der Ukraine aufstocken"

16.11.2022 | 17:33 Uhr
Lässt sich ein tödlicher Raketeneinschlag künftig verhindern? Experte Keupp meint: Ja, durch die "Aufstockung der Verteidigung der Ukraine" - und "klare Signale an Russland".
Nach dem Raketeneinschlag in Polen mit zwei Todesopfern hatte es Befürchtungen gegeben, dass der Nato-Bündnisfall eingetreten sein könnte. Der ist ausgeblieben, denn nach Einschätzung der Militärallianz ist eine Luftabwehrrakete der Ukraine auf polnischem Staatsgebiet eingeschlagen. Der Raketeneinschlag war wohl kein gezielter Angriff. Das meint auch der Experte Marcus Matthias Keupp. Er ist Militärökonom und Osteuropa-Experte der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich.
ZDF: Es sind keine Hinweise bekannt, dass das ein bewusster Angriff auf die Nato gewesen ist. Auch Nato-Generalsekretär Stoltenberg betonte, auch wenn es eine ukrainische Luftabwehrrakete war, trägt trotzdem Russland die Verantwortung dafür. Sehen Sie das auch so?
Marcus Matthias Keupp: Ich kann das genau so bestätigen. Das deckt sich absolut mit meiner Einschätzung. Ohne den russischen Raketenbeschuss auf die Ukraine, der völkerrechtswidrig ist und an der Grenze zum Genozid, wäre diese ganze Episode nicht passiert. Es zeigt uns aber auch die Bedeutung der Ukraine: Noch sagen wir ja immer: "Naja, das ist so weit weg im Osten." Es geht uns aber was an, in zwei Flugstunden sind Sie da.
Was Stoltenberg ganz am Anfang der Pressekonferenz erzählt hat, ich denke, das ist die Richtung für die Zukunft. Dass verschiedene Länder - zum Beispiel Schweden - beabsichtigen, ihre Lieferungen zur ukrainischen Verteidigung aufzustocken. Genau das sollte man tun: Man muss Russland klare Signale geben, dass diese Art der Taktik nicht aufgehen wird. Sondern im Gegenteil, dass sie nur weiter dazu führen wird, dass die Ukraine ihre Verteidigung ausbaut.
Es kann keine Alternative geben zu diesem Ausgang des Krieges. Um Russland klarzumachen, mit dieser imperialen Politik, die die Grundlage unsere Staatenordnung nach dem 2. Weltkrieg ad absurdum führen will, mit dieser imperialen Politik kommst Du nicht weiter. Es gilt nicht mehr das Recht des Stärkeren, sondern wir haben "Rule of the Law" - unsere internationale Staatenordnung basiert auf dem Völkerrecht. Wenn Russland das nicht freiwillig anerkennen will, dann wird man ihm das in diesem Krieg klarmachen - da kann es keine Alternative geben.
ZDF: Kann eine Rakete wirklich so vom Kurs abkommen?
Keupp: Man kann sich das so vorstellen: Eine feindliche Rakete fliegt an und will ein bestimmtes Ziel treffen. Die ukrainische Abwehrrakete steigt ebenfalls auf und trifft diese Rakete - das heißt, es gibt eine Explosion in der Luft, die Flugabwehr-Rakete ist zerstört, der Sprengstoff ist explodiert, die Trümmerteile fallen zu Boden.
Und etwas Zweites kann passieren. Entweder wird die feindliche Rakete völlig zerstört - oder sie fliegt ebenfalls weiter, hat aber möglicherweise noch etwas Treibstoff drin und stürzt ebenfalls unkontrolliert ab. Ein mögliches Ergebnis kann also sein, dass wir in den Trümmerteilen sowohl Reste der ukrainischen Abwehr finden, aber auch Reste einer russischen Missile, die den eigentlichen Angriff durchführen sollte.
ZDF: War das ein Fehler der Nato-Abwehrsysteme, dass das nicht früh genug erkannt wurde?
Keupp: Das ist die generelle Art, wie eine Luftabwehr funktioniert. Da gibt es die Radareinheit, die den Luftraum passiv überwacht, und die ist tatsächlich ständig aktiv und schaut, welche Objekte gibt's gerade jetzt im Luftraum und welche Flugbahn haben die? Die läuft immer und das ist wie bei der zivilen Luftüberwachung, die schaut auch immer, welche Flugzeuge sind gerade in meinem Bereich.
Militärisch stellt sich dann die Frage, wenn ich jetzt ein Objekt beobachte, das eigentlich nicht da sein dürfte, kein ziviles Flugzeug, keine militärischen Körper, etwas Unbekanntes - was mache ich jetzt? Haben sie da Effektoren (Waffen) und was ist die Doktrin für den Abschuss dieser Effektoren? Gilt die Doktrin "Ich schieße sofort auf alles, was kommt"? Oder warten Sie erst mal ab und machen eine Klassifizierung? Es ist gefährlich, Luftabwehr so zu betreiben, dass ich sage, "ich schieße gleich drauf". Es könnte ja auch ein ziviles Flugzeug sein, das sich verirrt hat.
Dieses Radar ist im Übrigen eines der stärksten der Nato in ganz Polen an der ganzen Ostflanke der Nato. Es ist nicht so, dass die Nato nicht sehen würde, was da geflogen kommt.
ZDF: Wie wird es nun weitergehen?
Keupp: Es gibt einen gut eingespielten Prozess, den Ramstein-Prozess. Die regelmäßigen Treffen vor allem der militärischen Vertreter auf der US-amerikanischen Airbase Ramstein. Wenn die sich das nächste Mal treffen, da wird ganz klar "Lessons learned" im Vordergrund stehen. Ich erwarte mir mehr stärkere Einzelhandlungen einzelner Staaten. Es wird wahrscheinlich eine Mischung geben. Eine konzertierte Aktion im Rahmen des Ramstein-Prozesses, als auch Sofort-Maßnahmen einzelner Länder.
Das Interview führte Christian Hoch.
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