: Cherson befreit: Das sind die Folgen

von Christian Mölling und András Rácz
11.11.2022 | 21:25 Uhr
Die russischen Truppen sind aus Cherson abgezogen. Was bedeutet das für den weiteren Kriegsverlauf? Und wie bewertet die russische Bevölkerung die Niederlage? Eine Analyse.
Am Mittwoch kündigte der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu an, dass Russland seine Streitkräfte aus den Teilen der Region Cherson westlich des Flusses Dnipro abziehen werde. Obwohl sowohl ukrainische als auch internationale Analysten die russische Erklärung mit Skepsis betrachteten, gab Russland am Freitag bekannt, dass es den Rückzug seiner Streitkräfte abgeschlossen habe. In dem russischen Kommuniqué heißt es, dass es dabei keine menschlichen oder technischen Verluste gegeben habe.
Vereinzelten Meldungen zufolge stießen die vorstoßenden ukrainischen Truppen mehrmals mit den sich zurückziehenden russischen Truppen zusammen und beschossen diese auch mit Artillerie. Diese Berichte können jedoch noch nicht bestätigt werden. Sicher ist, dass sowohl die Stadt Cherson als auch fast alle westlichen Teile der Region am Freitagabend bereits in ukrainischer Hand waren.

Dr. Christian Mölling ...

Quelle: DGAP
... ist Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin und leitet dort das Programm Sicherheit, Verteidigung und Rüstung. Er forscht und publiziert seit über 20 Jahren zu den Themenkomplexen Sicherheit und Verteidigung, Rüstung und Technologie, Stabilisierung und Krisenmanagement. Für ZDFheute analysiert er regelmäßig die militärischen Entwicklungen im Ukraine-Konflikt.

Dr. András Rácz ...

Quelle: DGAP
... ist Associate Fellow im Programm Sicherheit und Verteidigung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. Er forscht und publiziert zu Streitkräften in Osteuropa und Russland und hybrider Kriegsführung.

Ukraine behält Zugang zum Schwarzen Meer

Der Rückzug aus Cherson ist eine enorme strategische Niederlage für Russland und zugleich ein bedeutender Sieg für die Ukraine. Mit der Aufgabe von Cherson hat Russland seinen Brückenkopf am Westufer des Dnipro verloren. Von nun an besteht nicht einmal mehr die theoretische Möglichkeit eines Landangriffs auf Mykolajiw und Odessa.
Das bedeutet, dass Russland die Ukraine nicht vom Schwarzen Meer abtrennen kann. Damit entfällt auch die Möglichkeit, die russische Offensive nach Norden in Richtung Kryvy Rih voranzutreiben. Die russischen Truppen werden also nicht in der Lage sein, die entscheidende West-Ost-Nachschubroute, die durch die Mitte der Ukraine führt, zu unterbrechen.

Wurden russische Soldaten zurückgelassen?

Die sich zurückziehenden russischen Streitkräfte haben alle Brücken über den Dnipro zerstört. Ein großer Teil der Antonovksyi-Straßenbrücke und auch die Eisenbahnbrücke wurden gesprengt. Das Fehlen der Brücken macht es den ukrainischen Streitkräften praktisch unmöglich, den Dnipro gewaltsam zu überqueren, da die russischen Truppen das Ostufer fest verteidigen. Daher wird der Dnipro höchstwahrscheinlich noch eine ganze Weile als De-facto-Frontlinie in dieser Region dienen.
Es bleibt abzuwarten, ob wirklich alle russischen Truppen evakuiert worden sind - oder ob einige von ihnen zurückgelassen wurden, möglicherweise in Zivilkleidung. Am Mittwoch schätzte der US-Generalstabschef Mark Milley, dass Russland noch 20.000 bis 30.000 Mann in der Region hatte. Es ist unwahrscheinlich, dass eine so große Truppe in nur zwei Tagen evakuiert werden konnte.
In den nächsten Tagen werden höchstwahrscheinlich viele Einzelheiten über das genaue Schicksal des russischen Kontingents in Cherson bekannt werden.

Einfluss auf öffentliche Meinung in Russland?

Cherson ist eine Stadt von großer symbolischer und politischer Bedeutung. Die Stadt war das einzige regionale Zentrum, das Russland nach dem Februar 2022 erobert hatte. Außerdem nimmt die Stadt in der Geschichte Russlands einen wichtigen Platz ein.
Der Verlust von Cherson wenige Wochen nach der Annexion wird wahrscheinlich einen großen Einfluss auf die öffentliche Meinung in Russland haben. Viele innenpolitische Kommentatoren sind schlichtweg schockiert - trotz der Bemühungen des Verteidigungsministeriums, den Rückzug als einfache "Umgruppierung" darzustellen.
Präsidentensprecher Dmitri Peskow erklärte bereits, dass Cherson Teil des russischen Hoheitsgebiets bleibe. Der ehemalige russische Präsident und stellvertretende Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates, Dmitri Medwedew, versuchte ebenfalls, den politischen Schaden gering zu halten. Er versprach, Russland werde bald nach Cherson zurückkehren. Es ist jedoch höchst unwahrscheinlich, dass die dezimierten russischen Streitkräfte dazu in nächster Zeit in der Lage sein werden.
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