FAQ

: Was ist bekannt über russische Atomwaffen?

von Jan Schneider und Ole Apitius
23.03.2022 | 20:14 Uhr
Immer wieder wurde im Ukraine-Krieg auch vor dem Einsatz atomarer Waffen gewarnt. Wie viele Atomwaffen hat Russland? In welchem Zustand sind sie? Und würde Putin sie einsetzen?
Ein Interview des US-Senders CNN mit dem Kremlsprecher Dmitri Peskow am Dienstag hat weltweit neue Sorgen vor einem Einsatz von Atomwaffen ausgelöst. In dem Interview wurde Peskow gefragt, ob Wladimir Putin den Einsatz von Atombomben ausschließen könne.
Peskows Antwort: Atombomben würden nur gemäß der bekannten russischen Sicherheitsdoktrin eingesetzt, wenn eine "existenzielle Bedrohung" des Landes bestehe. Experten sehen diese Aussagen nicht als akute Drohung, sondern als eine Wiederholung der bisherigen russischen Nukleardoktrin.

"Moskau weiß, dass wir vor dem 3. Weltkrieg Angst haben, dass das eine verwundbare Stelle im öffentlichen Bewußtsein ist", sagt Gustav Gressel, Experte für Sicherheitspolitik beim European Council of Foreign Relations.

23.03.2022 | 04:43 min

Wie sieht die russische Sicherheitsdoktrin für Atomwaffen aus?

Am 2. Juni 2020 hat Russlands Präsident Putin ein Dekret unterzeichnet, das die Prinzipien der nuklearen Abschreckungspolitik Russlands zusammenfasst. Darin heißt es: "Die staatliche Politik der nuklearen Abschreckung ist ihrer Natur nach defensiv" und die "Russische Föderation betrachtet die Kernwaffen ausschließlich als Mittel der Abschreckung, dessen Einsatz als äußerstes Mittel zur Anwendung kommt".
CNN-Interview zu möglichem Einsatz von Atomwaffen
Dieses siebenseitige Dokument lässt allerdings "sehr viele Interpretationsmöglichkeiten zu", was absolut typisch sei für Nukleardoktrinen, erklärt Dr. Ulrich Kühn vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) gegenüber ZDFheute.
Ein inhärenter Bestandteil der nuklearen Abschreckung ist es, die Gegenseite zu einem gewissen Grad im Unklaren zu lassen, damit man eben nicht mit jeder Eventualität auch wirklich rechnen kann.
Dr. Ulrich Kühn

Mit Drohungen, Atomwaffen einzusetzen, ziele Putin auf unsere Köpfe, sagt Sicherheitsexpertin Gaub bei "Lanz". Nicht die Bombe sei die Waffe, sondern die Angst davor.

23.03.2022

Wie viele Atomwaffen hat Russland aktuell?

"Wir wissen - öffentlich zugänglich - nicht viel über das russische Atomarsenal", erklärt Kühn. Angaben über das russische Atomwaffenarsenal beruhen auf Schätzungen. Sehr systematisch schätzen seit 1987 die Wissenschaftler*innen der Federation of American Scientists in ihrem Nuclear Notebook. Dort werden jedes Jahr für alle Staaten, die Atomwaffen besitzen, Berichte veröffentlicht über die Menge und den Zustand von Raketen und Sprengköpfen. Grundlage der Berichte sind öffentlich zugängliche Daten.
Diesen Berichten zufolge umfasst das russische Arsenal im Frühjahr 2022 insgesamt 5.977 nukleare Sprengköpfe, wovon jedoch etwa 1.500 bereits ausgemustert sind und im Laufe der Zeit im Rahmen bilateraler Verträge zerstört werden sollen. Bleiben also 4.477 Atomsprengköpfe.
Von diesen sind geschätzte 1.588 aktive und einsatzfähige Atomsprengköpfe: etwa 812 auf landgestützten ballistischen Raketen, etwa 576 auf U-Boot-gestützten ballistischen Raketen und möglicherweise 200 auf Stützpunkten für schwere Bomber. Ungefähr weitere 977 strategische Sprengköpfe sind zusammen mit etwa 1.912 nicht-strategischen Sprengköpfen eingelagert.

Taktische Atomwaffen

Taktische Atomwaffen gehen zurück auf die Nato-Nuklearstrategie der späten 60er Jahre bis zum Ende des Kalten Krieges. Man ging davon aus, dass man diese kleinen Kernwaffen mit vergleichsweise geringer Sprengkraft räumlich begrenzt gegen gegnerische Truppen einsetzen könnte, weil der Wirkungsradius der Waffe begrenzt sei. Die Wirkung taktischer Atomwaffen galt als kontrollierbar. Die Sowjetunion und auch einige westliche Länder standen diesem Konzept kritisch bis ablehnend gegenüber. Trotzdem fanden taktische Atomwaffen nach dem Prinzip des "Gleichgewichts des Schreckens" in der Abschreckungspolitik Eingang in die Waffenarsenale verschiedener Atommächte.

Strategische Atomwaffen

Strategische Atomwaffen haben im Gegensatz zu taktischen Atomwaffen eine erheblich größere Sprengkraft. Sie sind nicht dafür konzipiert, gegnerische Streitkräfte zu bekämpfen, sondern sollen vielmehr ganze Regionen im Gebiet des Gegners verwüsten. Auch Atomraketen-Silos mit nuklearen Interkontinentalraketen des Gegners waren und sind als Ziele strategischer Atomwaffen vorgesehen. Mit dem Einsatz strategischer Atomwaffen wurde und wird bis heute ein globaler, nuklearer Vernichtungsschlag, der sogenannte all-out war, verbunden.

In welchem Zustand sind die russischen Atomwaffen?

Auch darüber könne man bestenfalls spekulieren, meint Experte Kühn. Die Sprengköpfe haben nur eine begrenzte Haltbarkeit von einigen Jahrzehnten. Sie müssen regelmäßig von Physikern überprüft werden, ob sie noch funktionstüchtig sind. Was man aber sicher wisse, ist, "dass Russland in den letzten zehn Jahren massiv in die Modernisierung seiner Nuklearstreitkräfte investiert hat, und zwar in die entsprechenden Trägersysteme". Beobachtet werden konnten unter anderem:
  • Eine ganze Reihe neuer Kurzstreckensysteme
  • Die Entwicklung eines neuen Marschflugkörpers, die nicht endgültig bewiesen ist, aber zumindest zum Ende des INF-Vertrags beigetragen hat
  • Neue schwere Interkontinentalraketen
  • Die Entwicklung von "exotischen Waffen" wie die kürzlich in der Ukraine eingesetzte Hyperschallrakete "Kinschal" oder etwa Unterwasserdrohne "Poseidon"

Bei Angriffen auf Mykolajiw soll auch die russische Hyperschallrakete Kinschal eingesetzt worden sein.

20.03.2022 | 02:31 min
Kühn gibt dabei zu bedenken, dass nicht nur Russland atomar aufgerüstet hat, sondern auch die USA: Die Amerikaner seien historisch betrachtet schneller gewesen mit der Entwicklung bestimmter Systeme, und die Sowjets haben nachgezogen und nachgerüstet. Währenddessen hatten die Amerikaner Gelegenheit zu modernisieren.
Das nennt man den sogenannten Modernisierungs-Zyklus.
Dr. Ulrich Kühn

ZDFheuteCheck zum Krieg in der Ukraine

Es kursieren zahllose Videos und Fotos von Russlands Invasion der Ukraine - und viele Falschinformationen. Hier setzt das ZDFheuteCheck-Team an, überprüft Inhalte, entlarvt Fake News und liefert Analysen. Eine Auswahl:

Ist ein russischer Atomschlag ein realistisches Szenario?

Strategisch läuft der Krieg in der Ukraine schlecht für Putin. Die Sanktionen sind hart und der Westen liefert der Ukraine weiter Waffen. Das könnte Putin an einen Punkt bringen, dass er Nuklearwaffen einsetzt, meint Kühn. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit aktuell noch recht klein ist.
Es gibt im Westen seit gut 15 Jahren eine Diskussion darüber, ob Russland eine geheime Nukleardoktrin hat, die sich "escalate to deescalate" nennt, also "Eskalieren um zu Deeskalieren", erklärt Kühn. Damals habe es Überlegungen im militärisch strategischen Umfeld der Russen gegeben, ob Moskau "eine oder wenige taktische Nuklearwaffen einsetzen könnte" wenn Russland in einem konventionell geführten Krieg zu unterliegen droht. Russland würde in diesem Szenario also Nuklearwaffen einsetzen, um die Gegenseite zu stoppen.
Seit etwa zehn Jahren gebe es außerdem eine zweite Interpretation der russischen Nukleardoktrin, dass auch ein offensiver Einsatz gerechtfertigt sein könnte. Dabei könnte Russland einen sogenannten "Demonstrationsschlag" ausführen, zum Beispiel einen taktischen Sprengkopf über der Ostsee zünden, um die Nato von einem Einsatz abzuschrecken.

Wie könnte der Westen darauf reagieren?

Es sei absolut zu hoffen, dass die USA nicht im gleichen Maße zurückschlagen, sollte es zu einem Einsatz von Nuklearwaffen durch Russland kommen, meint Kühn.
Es herrscht ein 77-jähriges nukleares Tabu. Das ist kein Gesetz, aber seit 1945 wurde keine Nuklearwaffe eingesetzt. Sobald eine dieser Waffen eingesetzt wird, fällt dieses Tabu. Das wäre eines der dramatischsten Ereignisse der Weltgeschichte.
Dr. Ulrich Kühn
Der Westen solle daher die ganze Welt versammeln und den Einsatz verurteilen. Sanktionen noch ausweiten und Russland weiter isolieren.

Fragen und Antworten zum Russland-Ukraine-Konflikt

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