: Demo für Lina E.: Was bedeutet "Tag X"?

von Julia Klaus
03.06.2023 | 13:20 Uhr
Die linksautonome Szene ruft seit Wochen dazu auf - einer Demo am "Tag X". Was soll das eigentlich sein? Und warum benutzen auch Rechtsextreme den Begriff?
Sachsen, Leipzig: Ein Graffiti "Free Lina 3.6. Tag X" prangt an einem Wohnhaus im Leipziger Süden.Quelle: Jan Woitas/dpa
"Samstag nach dem Urteil ist Tag X", das kündigte ein linksautonomer Account bei Twitter schon Ende März an. Dieser Tag - der Samstag nach dem Urteil gegen Lina E. - ist heute. Die Leipziger Studentin war am Mittwoch zu mehr als fünf Jahren Haft verurteilt worden, weil sie mit anderen Jagd auf Rechtsextreme gemacht und diese teils schwer verletzt hatte. "Selbstjustiz" nannte das Innenministerin Nancy Faeser (SPD).
Zwar hat die Stadt Leipzig eine angemeldete "Tag-X-Demo" verboten und Gerichte die Entscheidung bestätigt. Gewalttätige Krawalle werden trotzdem erwartet. Die Polizei ist mit einem Großaufgebot vor Ort - in der Nacht auf Samstag wurden bereits über 20 Polizisten verletzt.
Was am "Tag X" in Leipzig passiert: Die aktuelle Lage im Liveticker:

Tag X - ein Narrativ, verschiedene Verwendungen

Dass die linksautonome Szene den Begriff nutzt, kann zunächst verwundern. Denn in den letzten Jahren wurde ein "Tag X" vor allem mit Rechtsextremen in Verbindung gebracht. So hatte das im Dezember hochgenommene Reichbürger-Netzwerk um Prinz Heinrich XIII. Reuß auf einen Umsturz der politischen Ordnung hingearbeitet. Für dieses Ziel, für ihren "Tag X", wollte das klandestine Netzwerk auch Gewalt einsetzen, hatte einen militärischen Arm geplant.

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Auf den politischen Umsturz bereitete sich auch das 2017 bekannt gewordene rechtsextreme Prepper-Netzwerk "Nordkreuz" um den Bundeswehr-Unteroffizier André S. vor, der sich in Chats "Hannibal" nannte.
Im Messenger Telegram finden sich noch immer mehrere "Tag X"-Gruppen, die rechte Inhalte verbreiten.
"Im Rechtsextremismus wird der 'Tag X' oft als Erlösungsmoment konstruiert - ein Signal für den Umsturz und den Zusammenbruch der Odnung, nach der die Welt eine andere sein wird", erklärt Extremismus-Forscher Matthias Quent von der Hochschule Magdeburg-Stendal.
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Von AKW-Gegnern bis Islamisten

Extremismus-Forscher Quent ordnet ein:
An sich ist der metaphorische Begriff 'Tag X' aber nicht originär rechts - er wird in der Popkultur ebenso wie in unterschiedlichen politischen Bewegungen seit Jahren benutzt. Die Anti-AKW-Bewegung markierte damit beispielsweise nicht genau datierte Termine für Castor-Transporte.
Matthias Quent, Hochschule Magdeburg-Stendal
Quent spannt einen noch weiteren Bogen: "Im Islamismus lässt sich aufgrund der Vorstellung einer Erlösung im Paradies oder des Untergangs der vermeintlich dekandenten westlichen Ordnung ebenfalls ein symbolisches 'Tag-X-Narrativ' ausmachen."
Bei den Demos in Leipzig erkennt der Forscher in der Nutzung des Begriffs insgesamt "keine übergreifende Bedeutung", sondern vielmehr einen konkreten zeitlichen Bezug. Lange war nicht klar, wann das Urteil gegen Lina E. fallen wird.
Doch auf Twitter stören sich mehrere Nutzer an dem Begriff: "Tag X, da zucke ich immer zusammen. Kenne diese Nutzung bisher nur aus der Fascho-Ecke. (...) Bei einer Abstimmung über den Titel hätte ich deshalb auch dagegen gestimmt."
Unabhängig davon, wie die Szene den heutigen Samstag nennt - dass es in Deutschland einen nicht kleinen Kern von gewaltbereiten Linksextremen gibt, zeigt der Tag allemal.

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