: Mobilmachung: Zwischen Willkür und Widerstand

von Thomas Dudek
23.09.2022 | 21:33 Uhr
Die am Mittwoch in Russland verkündete Teilmobilmachung läuft teilweise willkürlich und chaotisch ab. Viele scheuen sich aber auch nicht, ihren Protest laut zu äußern.
Der Kreml geht bei den Scheinreferenden in den besetzten ukrainischen Gebieten von einem Ja für einen Beitritt zu Russland aus und hat eine rasche Annexion der Gebiete angekündigt. Quelle: Alexander Zemlianichenko/AP/dpa
Sieben Monate lang war der russische Angriffskrieg auf die Ukraine für die Bevölkerung in Russland eine "militärische Spezialoperation". Doch seit der Verkündung der Teilmobilmachung durch Russlands Staatspräsident Wladimir Putin ist dieser Krieg nun auch für die Russen endgültig zu einem Krieg geworden, was Videos in den sozialen Netzwerken eindrucksvoll belegen.

Krieg auch in Russland angekommen

Auf den Videos sieht man Männer, die sich auf Bahnhöfen von ihren Familien verabschieden oder so wie auf einem Video aus der an der Grenze zu China gelegenen Region Chabarowsk, in ein Militärflugzeig steigen.
Es sind die ersten der Reservisten, die nach der am Mittwoch verkündeten Teilmobilmachung ihre Einberufung bekamen.

Geringe Bereitschaft, für Putin in den Krieg zu ziehen

Informationen aus der kaukasischen Teilrepublik Dagestan, einem der Armenhäuser der Russischen Föderation, lassen jedoch erahnen, dass die Bereitschaft in den Krieg zu gehen, nicht besonders groß ist. "Mein Großvater kämpfte für das Vaterland", hört man einen Mann auf einem Video schreien, das am Donnerstag vor dem Rekrutierungsbüro in der Ortschaft Babajurt entstanden sein soll.
Von 1941 bis 1945 haben wir gekämpft. Das war ein Krieg. Das jetzt ist aber kein Krieg, das ist Politik. Ich werde nicht gehen.
Zudem wurde bei Babajurt aus Protest gegen die Mobilmachung eine Bundesstraße blockiert.

Chaotische Lage bei den Behörden

Es sind Proteste, die jedoch auch direkt in einer Militärkaserne enden können. So gibt es Berichte, dass sowohl in Moskau als auch in Woronesch festgenommene Demonstranten, die am Mittwochabend gegen die Mobilmachung protestierten, quasi noch auf der Polizeistation ihre Einberufungen erhielten. In Tschetschenien wurden wiederum mehrere junge Männer gezwungen, sich für den Krieg zu verpflichten. Deren Mütter haben Stunden zuvor gegen die Teilmobilmachung protestiert.
Chaotisch geht es offenbar auch bei den für die Mobilmachung verantwortlichen Behörden zu. Am Freitag ging das Video eines 60-jährigen Mannes viral, der eine Einberufung bekam. Die am Mittwoch verkündete Mobilmachung betrifft aber nur Reservisten bis zum 50. Lebensjahr. Bekannt sind auch Fälle von Männern, die nie gedient haben, aber dennoch eine Einberufung erhielten. [Aktuelle Entwicklungen im Liveblog.]

Reservisten umgehen Einberufung

Was aber auch daran liegen dürfte, dass auch einige Personen als Reservisten verzeichnet sind, die den Militärdienst umgangen haben, so wie der mittlerweile in Deutschland lebende Journalist Ivan Ruslyannikov. "Im Herbst 2016 rief mich meine Großmutter an und teilte mir mit, dass sie eine Mitarbeiterin des Militärrekrutierungsbüros kenne, die dafür sorgen könne, dass ich nicht zum Wehrdienst eingezogen werde. Im Voraus sollte ich ihr etwa 1.500 Euro zahlen", erzählt der Journalist ZDFheute.

Nach der Teilmobilmachung in Russland diskutieren Politiker in Deutschland über die Aufnahme von Kriegsdienstverweigerern, Deserteuren und Dissidenten.

23.09.2022 | 01:56 min
"Danach ging ich zum Rekrutierungsbüro für eine formelle medizinische Untersuchung. Die Ärzte schlugen mir eine Ursache vor: eine Verkrümmung der Wirbelsäule", so Ruslyannikov weiter. 2017 erlebte der für mehrere deutsche Medien schreibende Journalist eine dicke Überraschung: "Da hatte ich ein Dokument vom Rekrutierungsbüro in der Hand, laut dem ich in der Reserve sei und im Kriegsfall einberufen werden könnte."

Opposition ruft zu Protesten gegen Mobilmachung

Spannend dürfte werden, wie die russische Bevölkerung langfristig auf die Mobilmachung reagiert, die laut oppositioneller Medien und Experten wie der Politologin Ekaterina Schulman sogar mehr als nur die vom Kreml verkündeten 300.000 Reservisten betreffen könnte. Zumindest für diesen Samstag haben oppositionelle Gruppen erneut zu Protesten gegen die Mobilmachung aufgerufen.
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