: Gute Wünsche beenden keinen Krieg
von Gert Scobel
08.05.2022 | 09:00 UhrIn der Terra-X-Kolumne auf ZDFheute beschäftigen sich ZDF-Wissenschaftsjournalistinnen und -journalisten wie Harald Lesch, Mirko Drotschmann und Jasmina Neudecker jeden Sonntag mit großen Fragen der Wissenschaft - und welche Antworten die Forschung auf die Herausforderungen unserer Zeit bietet.
Die Behauptung, komplexen Problemen mit einfachen, klaren, aber linearen Anweisungen begegnen zu können, ist eines der Grundübel unserer Zeit. Selten führt dabei ein Weg direkt vom Wunsch über Wille und Vorstellung zu einer Welt, die sich danach richtet: selbst dann, wenn nahezu alle Menschen den Wunsch teilen. Der offene Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) formuliert einen solchen Wunsch, aber als Forderung. Die Gewissheit, die zum Ausdruck gebracht wird, suggeriert genaue Kenntnis der komplexen Realität - ohne zu zeigen, wie das eigene Wissen die Wunscherfüllung garantiert.
Wünsche garantieren nichts
Die Bitte der Gruppe ist, mit einem philosophischen Fachterminus gesagt, trotz ihrer appellativen Form kein performativer Sprechakt. Wer etwa sagt: "Ich verzeihe Dir", macht und bewirkt präzise in dem, was er oder sie sagt, tatsächlich das, wovon die Rede ist. Mit dem Sprechen geschieht Verzeihung; mit der Äußerung ereignet sich ihre Erfüllung.
Anders bei Wünschen. Selbst wenn man sie wiederholt, garantieren sie nichts. Der Vorteil: Selbst der komplexeste Weg sieht einfach aus. Man glaubt aus der Ferne zu wissen, wo es lang geht. Bis man plötzlich an der steilen Klippe steht, die man zuvor nicht hat sehen können.
Ukraine-Krieg ist wie jeder Krieg unberechenbar
Frieden geschieht, anders als ein Versprechen, nicht weil man ihn herbeiwünscht - denn die Wirklichkeit ist nicht magisch, sondern mörderisch. Der große pinke Elefant, der zwischen den Zeilen des Briefes Platz genommen hat, ist die banale, aber brutale Tatsache, dass dieser Krieg wie jeder Krieg unberechenbar ist und bleibt.

Philosophische Fragen nach Wahrheit, Demokratie und richtigem Handeln klingen angesichts eines realen Krieges, wie dem gegen die Ukraine, immer ein wenig läppisch. Trotzdem können wir folgendes daraus lernen.
03.03.2022 | 30:47 minDiese Einsicht kratzt an den fundamentalen Glaubenssätzen der Aufklärung. Es ist schwer zu ertragen, dass schlechte, irrationale Entscheidungen wie die Putins tausenden Menschen das Leben kosten. Schwer zu ertragen ist auch, dass jedes weitere Festhalten oder Abrücken von der Entscheidung vollkommen willkürlich ist. Das ist der Grund, warum sie paradoxerweise jederzeit ohne weiteren Anlass geändert werden könnte. Die Beliebigkeit dieser Entscheidung ist immun gegenüber Argumenten und Briefen.
Russlands Präsident Wladimir Putin hat jeden Glauben an Vernunft, Aufklärung und kommunikatives Handeln im Umgang mit ihm vernichtet. Dennoch geben die Unterzeichner*innen vor, eine praktische Lösung gefunden zu haben: ohne es jedoch wissen oder gar garantieren zu können.
Keine Möglichkeit der Vorhersage, was Putin machen wird
Die vorgebrachte Argumentation lässt nur einen höchst fragwürdigen, im wahrsten Sinne schwachen Schluss zu: Man sollte alle Waffen schweigen lassen und alles tun, um zu verhindern, Putin zu reizen - im Wissen, dass seine Entscheidung nicht rational, sondern willkürlich ist. Als aggressiver Tyrann und mutmaßlicher Kriegsverbrecher wird Putin jedoch einzig und allein selber entscheiden, was ihn reizt und wie er darauf reagiert. Es gibt keine Möglichkeit der Vorhersage. Es braucht nicht einmal einen Anlass, der ihn hindern würde, heute bereits das zu tun, was die Unterzeichner*innen für das Morgen befürchten. Er könnte auch jetzt die Atombombe zünden.
Ein Gespenst ist zurück: 2022 droht Russlands Präsident Wladimir Putin mit einem Atomschlag. Wie begegnete Deutschland dieser Gefahr früher?
01.05.2022 | 20:04 minVielleicht würde es helfen, wenn die Unterzeichner*innen dem Rat des Historikers Timothy Snyder und damit einem ausgewiesenen Holocaust- und Osteuropaexperten gefolgt wären. Snyder riet, sich regelmäßig selber über Verlautbarungen Putins oder der russischen Regierung in den offiziellen russischen Medien zu informieren. Dank der Hilfe von Übersetzungs-KI ist dies für jeden von uns möglich. Snyder bezog sich auf ein von offizieller Seite veröffentlichtes "Handbuch" zum Umgang mit dem "Völkermord in der Ukraine", womit nach russischer Lesart die Ermordung von Russen durch die dort ansässigen Nazis gemeint ist.
Wie wirkt Propaganda? Wer verhilft Tyrannen wie Putin zur Macht? Und warum lassen wir es so weit kommen wie in der Ukraine? Gert Scobel mit Erklärungen anhand von Timothy Snyders Buch "Über Tyrannei".
08.04.2022 | 24:19 minRussland sieht Nationalsozialismus als Argument
Der Text im "Handbuch" formuliert das Argument für eine russische Endlösung. Der ukrainische Nationalsozialismus, so heißt es dort, entfalte sich exakt wie der europäische und, in seiner ausgeprägtesten Form, der amerikanische Rassismus. Der kollektive Westen selbst sei, so das Handbuch, "der Konstrukteur, die Quelle und der Sponsor des ukrainischen Nazismus".
Einer der letzten Sätze lautet: "Russland hat alles getan, um den Westen im zwanzigsten Jahrhundert zu retten … "
Von nun an wird Russland seinen eigenen Weg gehen, ohne sich um das Schicksal des Westens zu kümmern, und sich auf einen anderen Teil seines Erbes verlassen - die Führungsrolle im globalen Prozess der Entkolonialisierung.
Es ist richtig, was der Appell an den Bundeskanzler behauptet: Dass moralisch verbindliche Normen, also moralische Tatsachen, universaler Natur sind. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob es klug wäre, wenn alle das Feuer löschen, indem sie sich selbst in die Flammen werfen und darauf hoffen, dass Putin mit dem Westen Erbarmen hat: Denn dieser Westen besteht für ihn aus Nazis.
Für Putin dient sie als Begründung und Rechtfertigung im Krieg gegen die Ukraine: Russlands Geschichte und imperiale Tradition. Was hat das mit den historischen Fakten zu tun?
13.03.2022 | 43:31 minGert Scobel ...
... ist Philosoph, Wissenschafts- und Kulturjournalist sowie Moderator der 3sat-Sendungen "scobel" und "Buchzeit". Er beleuchtet und analysiert wissenschaftliche Diskurse. Besonders interessiert ist er an Aufklärung, Transformationsprozessen, der Förderung von Bewusstseinskultur und der Frage nach einer Ethik der Informatik, insbesondere der Künstlichen Intelligenz. Seit 2019 ist er mit "scobel" auch als Youtuber aktiv - und kann cat content nicht ausstehen.
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