: Ukraine auf Rückeroberungs-Kurs

von Christian Mölling und András Rácz
25.11.2022 | 16:17 Uhr
Die Ukraine will Land und Menschen befreien, doch zwischen den besetzten Gebieten bestehen Unterschiede. Russlands Interesse am Donbass scheint derweil ungebrochen.
Ein Grad-Mehrfachraketenwerfer des ukrainischen Militärs feuert Raketen auf russische Stellungen an der Frontlinie in der Nähe von Bachmut in der Region Donezk. Quelle: dpa
Die Ukraine hat nicht nur neun Monate seit Beginn der groß angelegten russischen Eskalation überstanden, sondern konnte auch bedeutende Gebiete zurückerobern und beabsichtigt, dies weiterhin zu tun.
Sie hat bereits etwa 50 Prozent der von Russland im Februar und März besetzten Gebiete befreit. Für die ukrainische Regierung bleibt dies die Priorität.

Ziel der Ukraine: Befreiung von Repression, Gewalt und Willkür

Dabei geht es nicht nur um das Land, sondern auch um die Menschen, die in diesen Regionen leben. Dies gilt umso mehr, da die Zivilbevölkerung schwer unter der russischen Besatzung leidet und auch systematische Repressionen ertragen muss.

Die ukrainischen Behörden melden schwere russische Luftangriffe im ganzen Land. 70 Prozent von Kiew sind demnach ohne Wasser und Strom. Der UN-Sicherheitsrat tagt noch heute.

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Es ist daher eine Fehlannahme, dass ein sofortiger Waffenstillstand Frieden für die gesamte ukrainische Bevölkerung bringen würde. Vielmehr würden diejenigen, die zum Zeitpunkt des Waffenstillstands noch unter russischer Besatzung stehen, dadurch der Willkür der russischen Streitkräfte und Söldner überlassen.

Dr. Christian Mölling ...

Quelle: DGAP
... ist Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin und leitet dort das Programm Sicherheit, Verteidigung und Rüstung. Er forscht und publiziert seit über 20 Jahren zu den Themenkomplexen Sicherheit und Verteidigung, Rüstung und Technologie, Stabilisierung und Krisenmanagement. Für ZDFheute analysiert er regelmäßig die militärischen Entwicklungen im Ukraine-Konflikt.

Dr. András Rácz ...

Quelle: DGAP
... ist Associate Fellow im Programm Sicherheit und Verteidigung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. Er forscht und publiziert zu Streitkräften in Osteuropa und Russland und hybrider Kriegsführung.

Unterschiedliche militärische Herausforderungen

Die Ukraine beabsichtigt daher, die Befreiung von immer mehr Gebieten fortzusetzen. Allerdings muss man auch zwischen den verschiedenen besetzten Gebieten unterscheiden. Die Gebiete, die seit Februar in russischer Hand sind, sind aus politischer Sicht am leichtesten zurückzuerobern. Das sind die nördlichen Teile der Region Luhansk, etwa 70 Prozent der Region Saporischschja und die östlichen Teile der Region Cherson
In diesen Gebieten ist es den russischen Streitkräften noch nicht gelungen, ihre Herrschaft zu zementieren. Der Großteil der Zivilbevölkerung zieht es vor, in ukrainische Kontrolle zurückzukehren und in einigen Regionen (insbesondere in Saporischschja) gibt es eine starke Widerstandsbewegung im Untergrund.
Aus militärischer Sicht scheint der östliche Teil von Cherson von diesen drei Gebieten das komplizierteste zu sein – vor allem aus geographischen Gründen. Da es unwahrscheinlich ist, dass die Ukraine in der Lage ist, den Fluss Dnipro gewaltsam zu überqueren und groß angelegte Operationen am Ostufer durchzuführen, können diese Teile von Cherson erst nach der Rückeroberung der Region Saporischschja befreit werden. Mit anderen Worten: Das östliche Cherson kann nur von Osten her befreit werden, nicht aber von Westen oder Norden, also nicht über den Dnipro.

Ukrainische Donbass-Rückeroberung stößt auf harten Widerstand

Bei den anderen besetzten Regionen ist die Lage wesentlich komplizierter. Die Teile von Donezk und Luhansk, die seit 2014 unter russischer Herrschaft stehen, sind seither stark "russifiziert" worden. Die verbliebende lokalen Bevölkerung ist seit mehr als acht Jahren massiven Repressionen in Verbindung mit einem kontinuierlichen Fluss von russischer (Des-)Information und Propaganda ausgesetzt.
Die separatistischen Behörden sind mit großer Härte gegen alle vorgegangen, die mit der Kiewer Regierung sympathisierten. Große Teile der Ursprungsbevölkerung (also vor der russischen Invasion 2014) haben das Gebiet schon vor langer Zeit verlassen. Hinzu kommt, dass die Kriegsschäden im Donbass so groß sind, dass vom ehemaligen "industriellen Herzen" der Ukraine kaum noch etwas übrig ist.
Nach den russischen Kriegsanstrengungen zu urteilen, scheint der Kreml außerdem sehr entschlossen zu sein, den gesamten Donbass zu erobern - koste es, was es wolle. Daher kann man davon ausgehen, dass die russische Führung auch alles Notwendige tun würden, um zu verhindern, dass die Teile des Donbass, die sie seit 2014 halten, verloren gehen.

Rückeroberung der Krim ist militärisch riskant

Am kompliziertesten wäre jedoch die Befreiung der Krim. Die Halbinsel ist für Russland von größter strategischer Bedeutung, sowohl wegen der Stationierung der Schwarzmeerflotte als auch wegen der Kontrolle über das Schwarze Meer. Moskau hat die Krim seit 2014 aktiv militarisiert, indem es ehemalige sowjetische Stützpunkte wieder eröffnete, sowie ehemalige ukrainische Stützpunkte modernisierte und ausbaute.
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Auch die Geografie ist kompliziert: Die Krim ist nur durch einige sehr schmale Landstreifen mit dem Festland verbunden, die leicht zu verteidigen sind. Daher kann man davon ausgehen, dass die russische Armee bereit und in der Lage wäre, einen ausdauernden Verteidigungskampf zu führen, falls die Ukraine einen Bodenangriff auf die Halbinsel starten sollte.
Außerdem ist es fraglich, ob die örtliche Bevölkerung gerne unter ukrainische Herrschaft zurückkehren würde. Die Krim war die einzige Region der Ukraine, die laut der letzten Volkszählung von 2001 eine ethnisch russische Mehrheit hatte. Seit der Besetzung 2014 arbeitet Russland intensiv an der Integration der Krim in die Russische Föderation, sowohl in rechtlicher, finanzieller, sozialer und infrastruktureller Hinsicht. Die Krim ist deutlich besser integriert als die neu-annektierten ukrainischen Regionen.

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