: Trügerische 95 Prozent
Vor einem Jahr wäre die Internetseite "Gas Infrastructure Europe" wohl nur Fachleuten ein Begriff gewesen. Jetzt ist die Website von Europas Gasinfrastruktur-Betreibern eine der wichtigsten Informationsquellen, denn auf ihr lässt sich nachlesen, wie hoch der Füllstand der europäischen Gasspeicher ist.
Am Donnerstag stand die Website besonders im Mittelpunkt, denn sie hatte Gutes für Deutschland zu vermelden. Die Gasspeicher der Bundesrepublik sind zu über 95 Prozent gefüllt. Nach einer Verordnung des Bundeswirtschaftsministeriums hätten die Anlagen diesen Wert eigentlich erst am 1. November erreichen müssen. Man ist also früh dran. Erleichterung in Politik und Unternehmen war spürbar, aber die Sektkorken knallten trotzdem nirgends. Denn es gibt zu viele Unwägbarkeiten vor diesem Winter.
Füllstand des Gasspeichers Rheden bei gut 80 Prozent
Zunächst einmal müssten eigentlich alle Speicher im gleichen Maße gefüllt sein. Aber ausgerechnet der größte deutsche Speicher in Rheden hat erst einen Stand von gut 80 Prozent. Doch das ist eigentlich fast nebensächlich, denn für Fachleute sind die Speicher eher eine Ergänzung.
Letztlich wird auch vieles davon abhängen, wie kalt der Winter wird. "Die gut gefüllten Speicher werden uns im Winter helfen", sagte deshalb auch der Präsident der Bundesnetzagentur, Klaus Müller. Rein mengenmäßig reiche das Gas in den Speichern aber nur für ungefähr zwei kalte Wintermonate.
Energiesparen bleibt weiter nötig
Für Andreas Fischer, Energieexperte vom IW Köln, sind die "Speicher vor allem als Absicherung und Puffer zu betrachten, die man im Bedarfsfall zuschalten kann." Denn je leerer sie in diesem Winter werden, umso voller muss man sie im nächsten Winter wieder machen. Und das wahrscheinlich ganz ohne russisches Gas. Es werden also noch weitere Anstrengungen nötig sein.
Das heißt zunächst einmal weiter Energie sparen. Der Verbrauch müsse um mindestens 20 Prozent sinken, sagt etwa die Bundesnetzagentur.

Kalt duschen und frösteln im Büro? Kommunen, Unternehmen und Privathaushalte sind schon jetzt aufgefordert Gas und Strom zu sparen, sonst könnte der Winter "dunkel und kalt" werden.
31.08.2022 | 29:27 min"Mehr Gas aus dem Süden"
Daneben wird Deutschland auch weiter auf Lieferungen angewiesen sein. Auf dieser Ebene ist schon sehr viel passiert und noch vieles im Umbruch, da technische Voraussetzungen geschaffen werden müssen.
Beispiel Frankreich: Von dort bekommt die Bundesrepublik jetzt Gas durch Pipelines, die bisher eigentlich nur von Ost nach West liefern konnten. Jetzt ist auch der umgekehrte Weg technisch machbar und Deutschland profitiert davon, dass Frankreich bereits LNG-Terminals in Betrieb hat.
Fischer geht davon aus, dass man in der Zukunft "mehr Gas aus dem Süden bekommt, zum Beispiel aus Italien oder Spanien." Dort müsse allerdings noch die Infrastruktur geschaffen werden, da es vor allem noch an den nötigen Leitungskapazitäten mangelt.
Gasmarkt vor globalen Veränderungen
In jedem Falle steht der Gasmarkt vor einem strukturellen Umbruch. Was auch bedeutet, dass der europäische "Gashunger" Auswirkungen auf andere Länder hat. "Gewisse Mengen werden über den Spotmarkt verkauft, da ist Europa mit großen Summen reingegangen und das Gas ist deshalb woanders nicht angekommen", sagt Fischer. Das Problem der Gasknappheit hat sich also verlagert.
In der Energiekrise beliefert Frankreich Deutschland mit Gas. Im Gegenzug bekommt der Nachbar deutschen Strom. Aber die Hilfe zwischen europäischen Partnern ist nicht grenzenlos.
06.10.2022 | 02:15 minAndererseits gibt es auch langfristige Verträge für diese Länder, sodass Europa kleineren Staaten nicht sämtliches Gas vor der Nase wegschnappen kann, auch wenn es noch so viel Geld bietet. Klar ist jedenfalls: Vorerst werden die Preise hoch bleiben, denn zurzeit gibt es auf der Welt einen "Nachfrageschock". Fischer glaubt deshalb:
In ein paar Jahren werden wir einen größeren Wettbewerb um LNG haben. Eine höhere Nachfrage wird auch langfristig die Preise treiben. Allerdings wird dadurch perspektivisch auch das Angebot steigen.
Heißt: Nach einer Zeit der Verwerfungen, werden die Preise auch wieder fallen. Unklar ist allerdings, wann genau das sein wird und auf welchem Niveau es sich einpendelt. Zunächst heißt es erstmal, gut durch diesen Winter zu kommen, was trotz gefüllter Speicher schwer genug wird.
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