Interview
: AKW, Kohle: Wahl "zwischen Pest und Cholera"
01.08.2022 | 19:10 Uhr
Um Strom zu erzeugen, nutzt Deutschland noch immer Erdgas. Dabei stammt das oft aus Russland und ist teuer. Wie lässt sich der Gas-Anteil ersetzen? Erklärungen von Experte Nolden.Die Sorge vor dem Winter mit hohen Rechnungen und dem Bangen um die Versorgungssicherheit stellt die Energiewende auf den Prüfstand: Sollten Atomkraftwerke weiterbetrieben werden? Selbst die Grünen scheinen nicht abgeneigt.
Eigentlich sollten die letzten drei Atommeiler spätestens Ende des Jahres vom Netz gehen - für einen Weiterbetrieb müsste das Atomgesetz geändert werden. Was würde eine Verlängerung überhaupt bringen?
ZDFheute: Beim Strom werden in Deutschland rund zehn Prozent aus Erdgas gewonnen. Könnte ein Weiterbetrieb der Atomkraftwerke das dafür benötigte Gas ersetzen?
Christoph Nolden: Wir müssen zwei Dinge unterscheiden, die derzeit durcheinander gehen: Die drei verbleibenden AKW könnten in einen Streckbetrieb gehen. Dann würden sie über 2022 hinaus weiterlaufen. Sie würden dadurch aber nicht mehr Strom erzeugen, er würde einfach über einen längeren Zeitraum verteilt werden. Auf diese Weise könnten die drei Atommeiler mit den alten Brennstäben vermutlich noch bis Februar oder März weiterlaufen.
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ZDFheute: Oder man verlängert generell die Laufzeit der Atomkraftwerke - das hatte am Wochenende Finanzminister Christian Lindner (FDP) gefordert.
Nolden: Für einen Weiterbetrieb bräuchten wir neue Brennstäbe. Wie lange es dauert, um die zu besorgen, lässt sich schwer abschätzen - kurzfristig sicherlich nicht.
Ein Anbieter solcher Brennelemente ist auch Russland - was jetzt ein Problem ist.
Eine weitere Voraussetzung für Laufzeitverlängerungen sind Sicherheitsüberprüfungen bei den Atommeilern. Diese größeren Checks - die wegen der bevorstehenden Abschaltung nicht mehr stattgefunden haben - müssten die Anlagen überstehen.
Christoph Nolden ...
... ist Leiter für Erdgas-, Wasserstoff- und stoffliche Infrastrukturen an der Fraunhofer-Einrichtung für Energieinfrastrukturen und Geothermie.
ZDFheute: Den Strom, der derzeit aus Erdgas gewonnen wird, könnte man aber mit Atomstrom ersetzen?
Nolden: Bis Ende des Jahres ist dies nicht möglich, da sich die Produktion aus den AKW nicht steigern lässt. Bei einem Streckbetrieb würde sich die Situation im kommenden Jahr zwar entspannen, die in diesem Jahr wegfallende Produktion müsste aber zusätzlich - durch Kohlekraftwerke - kompensiert werden.
Bei einer Laufzeitverlängerung ist aus technischer Sicht ein Ersatz möglich. Damit ist aber wiederum die Frage verbunden, ob wir bereit sind, mehr Atommüll in Kauf zu nehmen.
Deutschland will aussteigen: keine Kohle, kein Gas, keine Atomkraftwerke. Stattdessen wollen wir voll auf erneuerbare Energien umsteigen. Droht ein großer Strom-Blackout?
01.08.2022 | 43:30 minZDFheute: Damit wären wir beim Thema Stein- und Braunkohle. Könnte man mit den alten Anlagen Strom erzeugen und beim Gas-Ausstieg helfen?
Nolden: Kohle ist an sich ein verfügbarer Rohstoff. Auch könnten mehrere Anlagen recht kurzfristig hochgefahren werden. Leider sind das häufig Kraftwerke, die besonders alt und klimaschädlich sind.
Kohle ist aus Klimaschutz-Sicht vollends abzulehnen. Bei den Atomkraftwerken hat man immerhin den Vorteil, dass sie nicht so viel CO2 ausstoßen.
Deutschland könnte dadurch sogar seine Klimaziele erfüllen. Aber der Atommüll ist ein riesiges, ungelöstes Problem. Die Politik muss sich aus Klimaschutz-Sicht bei den beiden Alternativen also zwischen Pest und Cholera entscheiden.
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ZDFheute: Und dann gibt es noch die systemrelevanten Gaskraftwerke ...
Nolden: Genau. Die Bundesnetzagentur hat Gaskraftwerke definiert, die derzeit nicht vollends abgeschaltet werden können. Sonst könnte es zu schweren Störungen im Stromnetz kommen. Diese Kraftwerke müssen also ohnehin mit Gas versorgt werden.
Alles in allem ist die Situation für die Politik mehr als vertrakt.
Interview und Recherche: Julia Klaus und Huyen Trang Dang Vu.
Wie der Stand der Stromversorgung und Gasspeicher ist und der Ausbau des Ökostroms vorangeht, sehen Sie hier in unserem Überblick mit Grafiken: