: "Dann werden wir 2030 noch Kohlekraft haben"

20.06.2022 | 21:37 Uhr
Kohlestrom statt Erdgas: Die Wirtschaftsweise Veronika Grimm erklärt im Interview, warum das nicht nur eine kurzfristige Lösung ist und wie auch Atomkraft helfen kann.
Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) will den Einsatz von Gas für Stromerzeugung und Industrie senken - es sollen dafür mehr Kohlekraftwerke zum Einsatz kommen. Sie sollen die Stromerzeugung in mit Erdgas befeuerten Kraftwerken soweit wie möglich ersetzen, um Gas einzusparen. Das sei nicht nur eine kurzfristige Lösung, so Wirtschaftswissenschaftlerin Prof. Veronika Grimm im Interview. Das sagt die Wirtschaftsweise zu ...

... den Plänen bei der Stromversorgung

"Jetzt müssen wir zunächst einmal eher mehr auf Kohle setzen, um die Gasverstromung zu reduzieren und mehr Gas einspeichern zu können. Das bedeutet, dass kurzfristig die Kohlekraftwerke mehr laufen und mehr CO2 ausstoßen werden. Aber da Kohlekraftwerke und der gesamte Stromsektor im europäischen Emissionshandel sind, muss das anderswo abgefangen werden. Also insgesamt kann nicht mehr CO2 ausgestoßen werden, es muss anderswo eingespart werden.
Mittelfristig müssen wir Alternativen entwickeln und Gas aus anderen Regionen als aus Russland beschaffen. Ebenfalls eine attraktive Option wäre es, die Atomkraftwerke noch einmal zu verlängern. Auch dann hätte man ein bisschen mehr Spielraum, die Stromversorgung zu relativ günstigen Preisen sicherzustellen. Teurer wird es auf jeden Fall, weil durch die angestrebte Unabhängigkeit von Russland einfach die Gasversorgung teurer wird. Und das wird sich auf den Strompreis niederschlagen."

... dem geplanten Kohleausstieg im Jahr 2030

"Wir werden jetzt erst mal eine Phase vor uns haben, wo es uns gelingen muss, sehr, sehr ambitioniert die Erneuerbaren auszubauen. Aber wir werden, je nachdem, wie wir uns aufstellen, im Jahr 2030 immer noch Kohlekraftwerke oder eben zusätzliche Gaskraftwerke brauchen. In der Situation vor dem Ukraine-Krieg war es so, dass der Kohleausstieg ohne weiteres stattgefunden hätte - rein marktgetrieben - weil die Gaskraftwerke aufgrund der besseren CO2-Bilanz die Kohlekraftwerke aus dem Markt hinausgedrängt hätten.
Das wird jetzt bei den höheren Gaspreisen nicht passieren. Das heißt, wenn wir nicht mit Gas weitermachen, dann werden wir 2030 immer noch Kohlekraftwerke haben. Wenn wir den Kohleausstieg 2030 haben wollen, dann muss man ihn früh beschließen. Denn dann brauchen wir den Zubau von Gaskraftwerken, die dann mit dem teureren LNG betrieben werden müssen. Perspektivisch langfristig dann mit Wasserstoff."

... der Möglichkeit, Atomkraftwerke länger am Netz zu lassen

"Um die Laufzeiten der drei AKW, die noch am Netz sind, zu verlängern, müsste man diese in den Streck-Betrieb schicken - also über den 31.12. hinaus in Betrieb lassen, mit den aktuellen Brennelementen. Dafür müsste man sie ein bisschen herunterfahren, sodass die Brennelemente länger ausreichen. Etwa bis in den nächsten Frühling. Das könnte durchaus dazu beitragen, dass wir im Winter auch Gas einsparen können, weil die AKW dann eben Anfang 2023 noch zur Verfügung stehen.
Dieser Streck-Betrieb würde es uns erlauben, die neuen Brennelemente zu bestellen. Das braucht ja signifikante Vorlaufzeiten. Und wenn man überhaupt noch eine Chance haben will, die Kernkraftwerke zu verlängern, für einen Zeitraum von ungefähr fünf Jahren, müsste man jetzt sofort diese Brennelemente bestellen. Mit der Verlängerung der Kernkraftwerke wären aber noch viele andere Fragen zu klären. Sicherheitsrelevante Fragen zum einen, aber man muss auch das Personal überzeugen, nicht in den vorzeitigen Ruhestand zu gehen. Denn das Personal in Kernkraftwerken kann man nicht so einfach auswechseln.
Insofern hängen mit der Laufzeitverlängerung schon sehr viele Herausforderungen zusammen. Trotzdem sollte man in der Politik sehr genau darüber nachdenken, ob man diesen Schritt nicht nochmal anstoßen möchte.
Prof. Veronika Grimm, Wirtschaftsweise

... wo der einzelne Verbraucher Gas sparen kann

"Es gibt prinzipiell theoretisch ein großes Potenzial, auch im Bereich der Wärmeerzeugung einzusparen. Aber das Problem ist natürlich, dass das sehr kleinteilig jeder selbst am besten weiß, wo er vielleicht einsparen kann. In einigen Mietshäusern ist die Heizungsanlage vielleicht nicht optimal eingestellt. Andere sind ohnehin kurz davor, ihre Heizungsanlage auszutauschen und können das vielleicht sogar noch realisieren - trotz der aktuellen Knappheit bei den Handwerkern. Fünf Prozent der Gas-Heizanlagen sind schon über ihrer Lebensdauer, also da würde ein Austausch ohnehin anstehen. Außerdem kann man natürlich die Temperatur runterregeln."
Man könnte hier mit Anreizen arbeiten, also Prämien ausschreiben für diejenigen, die besonders viel Gas einspeichern im kommenden Winter im Vergleich zum letzten Winter.
Prof. Veronika Grimm, Wirtschaftsweise
"Und darauf kann man sich eben auch vorbereiten. Zum Beispiel, wenn man seine Heizungsanlage austauscht oder wenn man seine Heizanlage neu einstellt. All diese Möglichkeiten gibt es."

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