Interview

: "Eklatant wenig erreicht"

11.11.2022 | 16:06 Uhr
Die Energiewende ist eine der drängendsten Herausforderungen unserer Zeit. Gebäudetechnologie-Expertin Messari-Becker stellt Deutschlands Politik ein schlechtes Zeugnis aus.
Erneuerbare Energien: In Deutschlad teils verhindert statt gefördert, so Expertin Messari-Becker.Quelle: dpa
Die Energiewende in Deutschland kommt nur langsam voran. Die Bauingenieurin und Expertin für Energieeffizienz im Gebäudesektor Lamia Messari-Becker stellt der Politik im Interview mit ZDFheute ein schlechtes Zeugnis aus: Für die Milliarden an Subventionen sei bisher viel zu wenig erreicht, der Ausbau erneuerbarer Energien sei teils sogar aktiv verhindert worden.
ZDFheute: Wo steht die deutsche Energiewende derzeit?
Lamia Messari-Becker: Die deutsche Energiewende ist bisher nicht so erfolgreich, wie sie sein muss. Unser Endenergiebedarf von gegenwärtig rund 2.400 Terrawattstunden (TWh) teilt sich auf in circa 20 Prozent Strom und 80 Prozent Wärme und Treibstoffe. Der Anteil an erneuerbaren Energien am Strom liegt inzwischen bei ca. 50 Prozent, bei Wärme nur bei 15 Prozent und bei Verkehr sogar nur bei 7 Prozent. Da sind wir völlig blank. Bezogen auf den Endenergiebedarf leisten erneuerbare Energien also einen Anteil von knapp 20 Prozent.
Kurzum: Für Milliarden an investierten Subventionen wurde eklatant wenig erreicht.
Energieexpertin Lamia Messari-Becker
ZDFheute: Welche Fehler sehen Sie in der Energiepolitik?
Messari-Becker: Die Abhängigkeit von Russland insbesondere bei Gaslieferungen muss nicht weiter als Fehler betont werden. Es fehlt eine systematische Herangehensweise, die die Ausstiege, etwa aus Kohle- und Atomkraft mit den Einstiegen in klimafreundliche und erneuerbare Energien und Technologien abstimmt, also ein Plan, der Versorgungssicherheit mit Klimafreundlichkeit verbindet und konsistent ist. Die wesentlichen Fehler sind verschleppter Ausbau und keine Diversifizierung.

Lamia Messari-Becker ...

Quelle: ZDF/Nieberg
...ist promovierte Bauingenieurin und Professorin für Gebäudetechnologie und Bauphysik an der Universität Siegen. Die Expertin für Nachhaltigkeit, Klimaschutz und Energieeffizienz im Gebäudesektor und in der Stadtentwicklung war bis 2020 Mitglied im Sachverständigenrat für Umweltfragen und bis 2022 im Expertenkreis Zukunft Bau der Bundesregierung. Messari-Becker ist Mitglied im Zukunftsrat nachhaltige Entwicklung Rheinland-Pfalz und im Club of Rome.
Der Fokus ruht ausschließlich auf Strom. Es fehlen eine Wärmewende sowie ein Aufbau einer Speicherinfrastruktur. Auf den Punkt gebracht:
Man hat den Ausbau erneuerbarer Energien nicht überall vorangetrieben, sondern teils aktiv verhindert.
Energieexpertin Lamia Messari-Becker
Zudem hat man den Fokus auf Strom und dann auch eher aus Windkraft und Photovoltaik gelegt. Eine Wärmewende ist bisher Fehlanzeige. Darüber hinaus wurde keine Speicherinfrastruktur und -kapazitäten aufgebaut. Für eine Industrienation und einen Sozialstaat ist diese Unbedarftheit nicht haltbar.
ZDFheute: Auf welche Energiequellen sollte Deutschland in Zukunft setzen?
Messari-Becker: Es wird ein Mix werden: mehrere erneuerbare Energiequellen je Potential: Windkraft, Photovoltaik, Geothermie, Solarthermie, Biomasse, Wasserkraft etc.. Geothermie beispielsweise ist grundlastfähig, produziert Wärme und Strom und kommt grundsätzlich ohne Speichertechnologie aus. In der Übergangsphase sollten eigene Vorkommen an Gas und Kohle genutzt werden, anstatt auf Despoten zu setzen. Atomstrom nutzen wir ohnehin im europäischen Stromnetz mit. Und wir brauchen Energiekooperationen, etwa mit afrikanischen und süd-amerikanischen Ländern, um dort nachhaltigen Wasserstoff günstig zu produzieren.
ZDFheute: Die deutsche Energiepolitik setzt auf neue Energiesysteme. Laufen wir nicht Gefahr in neue Abhängigkeiten zu geraten?
Messari-Becker: Ja, die Gefahr sehe ich. Wir müssen auch deshalb die Energielieferketten diversifizieren, aber wir werden nicht ohne Handelspartner auskommen. Gleichzeitig ist es wichtig, eine geostrategische Rohstoffpolitik zu entwickeln, wie zurzeit in den USA.
Wir kommen also nicht ohne heimischen Rohstoffabbau aus. Für E-Mobilität und Turbinen von Windkraftanlagen werden seltene Erden gebraucht, die man auch in Deutschland abbauen kann.
Energieexpertin Lamia Messari-Becker
Das Dilemma ist zusätzlich, dass die Produktion von Photovoltaik-Anlagen oder Windrotoren bereits Deutschland verlassen hat. Energiepolitik kann nur erfolgreich sein, wenn sie auch vor Ort eine Wertschöpfung generiert.
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ZDFheute: Welche Anforderungen stellt der Umbau der Energiesysteme an die Infrastruktur?
Messari-Becker: Es gibt aus meiner Sicht drei Anforderungen: Ausbau und Modernisierung, Versorgungssicherheit, Resilienz und Vernetzung. Im Einzelnen heißt das: Der Netzausbau von tausenden Kilometern von Stromleitungen steht an. Die Gas- und Wärmenetze müssen wasserstofftauglich gemacht werden. Es braucht eine Speicherinfrastruktur um Versorgungssicherheit zu gewährleisten.
Energieinfrastruktur ist kritische Infrastruktur. Sie muss resilient – also widerstandsfähig – sein, etwa gegen Wetterextreme, Klimawandel und Cyberattacken.
Energieexpertin Lamia Messari-Becker
Es muss allen klar sein, dass das anspruchsvoll ist. Das Energiesystem der Zukunft ist digital und vernetzt, ist aber keineswegs weniger anspruchsvoll.
ZDFheute: Digital und vernetzt – macht uns das krisensicher?
Messari-Becker: Digitale Vernetzung kann enorme Potentiale aktivieren. Denken wir an städtische Energienetze, an energetische Vernetzung im Quartier, an Geo-informationsbasierte Erfassung der Potentiale erneuerbarer Energien, an die Nutzung industrieller Abwärme oder an bedarfsgerechte Mobilitätsangebote. Zugleich sind digital gesteuerte Systeme anfälliger für Fehler oder Attacken. Daher gehört digitale Sicherheit bereits heute in der Energiepolitik mitgedacht.
Das Interview führte Christine Elsner aus der ZDF-Umweltredaktion.

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