: Warschauer Ghetto: Überleben in der Hölle

von Milena Drzewiecka, Warschau
19.04.2023 | 06:57 Uhr
Krystyna Budnicka ist eine der vielen Juden, die Richtung Hunger und Grausamkeit ins Warschauer Ghetto geschickt wurden. Und eine der Wenigen, die den Aufstand überlebt haben.
Jüdische Überlebende Krystyna Budnicka in ihrer Warschauer Wohnung.(Archivfoto 2020)Quelle: ZDF/Lukasz Galkowski
Es gab die Menschen, die mich töten wollten. Warum? Meine einzige Sünde war, dass ich als Jüdin geboren bin. Was für eine Sünde habe ich begangen? Wofür sollte ich bestraft werden?
Das fragt Krystyna Budnicka und erzählt uns von ihrem Schicksal. Sie war erst acht Jahre alt, als die deutschen Besatzer im Herbst 1940 das Warschauer Ghetto errichtet haben. Etwa 400.000 Menschen wurden damals dort eingesperrt und überwacht.
Darunter die Familie Kuczer: Mutter, Vater und acht Kinder. Krystyna (damals Hena) war die jüngste. Und sie ist die einzige aus der Familie, die den Zweiten Weltkrieg überlebt hat. Not und Elend, Gewalt und Terror der SS - so sah der Alltag im Ghetto aus.

Krystyna Budnicka ...

Quelle: ZDF
... wurde 8. Mai 1932 in Warschau geboren als Hena Kuczer. Von 1940 bis 1943 lebte sie im Warschauer Ghetto. Sie hatte sieben Geschwister, von denen niemand den Zweiten Krieg überlebte. Nach dem Krieg arbeitete sie als Lehrerin. Sie wohnt in Warschau und engagiert sich in der Vereinigung "Kinder des Holocaust".

Das Warschauer Ghetto: Hunger, Deportation und Tod

Mehr und mehr Juden auf immer engerem Platz mit immer weniger und weniger zu essen. Im Juli 1942 begannen die ersten Deportationen von Juden aus dem Ghetto in das Vernichtungslager Treblinka. Krystyna erzählt:
Die Menschen waren hungrig und sie haben sich für die Arbeit gemeldet. Aber jemand hat es geschafft zu fliehen, kam ins Ghetto zurück und sagte: Hört zu, das ist kein Arbeitslager, das ist Treblinka
Krystyna Budnicka, Überlebende des Warschauer Ghettos
Bis Ende 1942 wurde die Mehrheit der Ghettobewohner deportiert und ermordet. Alles im Rahmen der sogenannten "Endlösung der Judenfrage". Die jüdische Widerstandsorganisation aber wollte eine andere Lösung.
Etwa 750 Juden, darunter einige von Krystynas Brüdern, entschieden sich für den Widerstand. Mit mehr Hoffnung als Waffen wollten sie sich gegen die Deutschen wehren.
Überlebende des Warschauer Ghettos, Krystyna Budnicka, ist auf einem Graffito in der Warschauer Innenstadt abgebildet: "Ich befand mich fern der Realität, als ob in einer Lethargie, ich hatte nicht einmal Angst. Ich habe überlebt, weil neben mir immer jemand da war, der mich geführt hat."Quelle: ZDF

Sicherer Bunker unter Tage rettete Krystynas Leben

Worin bestand Krystynas Rettung? Ihre Brüder waren Schreiner. Sie bauten einen sicheren Bunker, in den sie mit der Familie schon Anfang 1943 eingezogen ist. In diesem Bunker war sie, als der Aufstand am 19. April 1943 begann. Unter der Erde überlebte sie nicht nur den vierwöchigen Aufstand, sondern auch ein paar Monate danach.

Der Aufstand im Warschauer Ghetto ...

Quelle: Süddeutsche Zeitung Photo
... begann vor achzig Jahren, am 19. April 1943. Jüdische Ghetto-Bewohner erhoben sich gegen die Übermacht von SS und Wehmacht. Damals lebten noch rund 60.000 Menschen hinter den 18 Kilometer langen Mauern des Ghettos. Fast vier Wochen dauerte es, bis die SS den Aufstand endgültig niederschlagen konnte.

Hunger und Tod in Warschau

Das Warschauer Ghetto wurde im November 1940 von den Deutschen Besatzern errichtet. Juden aus ganz Polen wurden dorthin transportiert. Zu Spitzenzeiten waren in dem Gebiet im Stadtzentrum 445.000 Menschen eingeschlossen. Durch Überbevölkerung, katastrophale hygienische Verhältnisse und Hunger starben dort pro Monat 6.000 Menschen.

Abtransport in Todeslager

Vom Ghetto aus deportierte die SS immer wieder Menschen in die Todeslager des NS-Regimes. Im Juli 1942 begannen die Nazis, das Ghetto zu räumen. Bis April 1943 wurden 300.000 Menschen von dort in Vernichtungslager verbracht. Am 19. April sollten die letzten Menschen aus dem Ghetto geholt werden, damit Warschau zum Geburtstag des Führers "judenfrei" wäre.

Der Widerstand

750 spärlich bewaffnete Kämpfer setzten sich gegen völlig überraschte 2.000 Soldaten, SS-Männer und Polizeikräfte zur Wehr. In den ersten Tagen waren die Widerstandskämpfer erfolgreich, doch die Deutschen steckten das Ghetto systematisch in Brand.

Die Opfer des Aufstands

Insgesamt forderten die Kämpfe mehr als 12.000 Todesopfer. Über 30.000 Menschen wurden anschließend erschossen, 7.000 in Vernichtungslager transportiert. Nur wenigen gelang die Flucht.

Die Bedeutung des Ghetto-Aufstands

Quelle: dpa-Bildfunk
Der Aufstand hat eine enorme symbolische Bedeutung: Er zeigte, dass die Deutschen nicht unbesiegbar waren. 1948 wurde in Warschau ein Denkmal errichtet für die Helden des Warschauer Ghettos. Dort, vor dem Denkmal, wo Williy Brandt 1970 im Gedenken an die Opfer niederkniete, wird Bundespräsident Steinmeier als erster deutscher Staatsgast Polens zum Jahrestag eine Rede halten.

Quelle: KNA

Bis ihr Bunker im Herbst entdeckt wurde. Zwei ihrer Brüder waren rausgegangen, hatten auf Hilfe und Brot gehofft, wurden aber erschossen. Krystyna musste fliehen. Doch wohin, wenn man nicht nach oben kann?
Ich bin in den Kanal geflohen. Dunkelheit, Ratten, Abfall, das ist alles dort, aber der Kanal war der Ort meiner Rettung.
Krystyna Budnicka, damals 11 Jahre alt
"In dem Bunker und in dem brennenden Ghetto herum hätte ich nicht überlebt", sagt Krystyna. Das kleine Mädchen musste die Eltern in dem Kanal zurücklassen - sie hatten keine Kraft weiterzugehen.

Durch Erinnerung ein symbolisches Grab für die Familie errichten

"Ich wollte bei der Mutter bleiben und sie sagte: Geh! Ich habe doch nicht gedacht, dass ich sie nie wieder sehen werde". Krystyna schaffte es schließlich, durch die Kanalisation aus dem Ghetto zu fliehen.
80 Jahre danach spricht sie mit uns auf dem Gelände ihrer damaligen Hölle und will mit ihren Erzählungen das symbolische Grab ihrer Familie bauen. Wir treffen sie beim Denkmal der Helden des Ghettos.
Krystyna Budnicka am Denkmal der Helden des Ghettos in WarschauQuelle: ZDF
Genau hier wird Bundespräsident Steinmeier die Rede halten. Seine Worte werden genau gehört: in Warschau und in Jerusalem. An der Gedenkfeier wird auch der israelische Präsident Isaac Herzog teilnehmen.

Budnicka: "Was im Ghetto passiert ist, ist eine Warnung"

Aber eines ist bereits klar: kein politisches Wort wird so stark sein wie die Worte der Zeitzeugen: "Manche Sachen kann man vergeben, aber nicht vergessen," sagt uns Marian Kalwary, ein anderer Zeitzeuge, dem es gelungen ist aus dem Warschauer Ghetto zu fliehen.
Was passiert ist, sollte sich nie wiederholen. (...) Andere Nationen zu beleidigen oder zu demütigen ist verbrecherisch. Nationalismus ist ein Schrittchen vom Faschismus entfernt
Marian Kalwary, Überlebender des Warschauer Ghettos
Krystyna Budnicka, die ihre Kindheit und ihre Familie verloren hat fügt nur eines zu: "Das, was im Ghetto passiert ist, ist eine Warnung". Eine "Nie wieder" Botschaft, die in der heutigen Welt wieder wiederholt sein muss.

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