: Frankreich: Gut leben mit Demenz

von Lukas Nickel
25.06.2023 | 16:18 Uhr
In Südfrankreich wird getestet, wie man Alzheimererkrankten ein würdevolleres Leben ermöglichen kann. Ein Dorf als - erfolgreiches - Pilotprojekt.
Im Alzheimerdorf steht intensive Betreuung im Vordergrund.Quelle: ZDF/Lukas Nickel
Auf den ersten Blick wirkt hier alles wie in einem echten Dorf. Es gibt einen zentralen Platz mit Einkaufsladen, Friseur, Bibliothek und - natürlich französisch - einer Brasserie.
Das viele Grün und der weite Blick über die unscheinbaren Zäune lassen vergessen, dass das hier eigentlich ein Altersheim für Alzheimererkrankte ist - ganz ohne weiße Arztkittel.

Gegenentwurf zu herkömmlichen Altersheimen

Das Dorf sei bewusst so entworfen, dass man vergisst, wo man sich eigentlich aufhält, erklärt Cécile Berthier, Direktorin des Dorfs:
Die Philosophie hier ist: Alles so machen, wie zu Hause.
Cécile Berthier, Direktorin Alzheimerdorf
Der zentrale Platz im Village Landais Alzheimer.Quelle: ZDF
So ist das "Village Landais Alzheimer" zwei Autostunden südlich von Bordeaux auch ein Gegenentwurf zu herkömmlichen Altersheimen. Mit viel Zeit und möglichst viel Freiheit für die Menschen soll ein Gefühl von Zuhause vermittelt werden. Nur eben in kreisförmigen Wegen, damit sich die Bewohnerinnen und Bewohner nicht in einer Sackgasse verlaufen.

Was versteht man unter einer Alzheimer-Erkrankung?

Charakteristisch für Alzheimer sind Ablagerungen von Eiweißen im Gehirn, Jahre bevor erste Symptome auftreten. Der Antikörper Lecanemab fängt im Gehirn der Patienten das Eiweiß Amyloid-beta (Abeta) ein, das sich dort in Form sogenannter Plaques ablagert.

Diese Plaques sind ein maßgebliches Kennzeichen von Alzheimer und gelten als Mitursache der Erkrankung.

Was versteht man unter Demenz?

Die Alzheimer-Erkrankung ist die häufigste Form von Demenz. Laut Deutscher Alzheimer Gesellschaft leben in Deutschland rund 1,8 Millionen Menschen mit Demenz, die meisten von ihnen haben Alzheimer. Es kommt dabei zu einem Absterben von Nervenzellen im Gehirn.

Das führt zu:

  • Vergesslichkeit
  • Verwirrtheit
  • Sprachstörungen
  • oder Orientierungslosigkeit

Die Krankheit schreitet langsam fort, so dass die Betroffenen ihren Alltag zunehmend schwerer bewältigen können.

Intensivere Betreuung und flexiblere Pflegezeiten

Jenny Heidet begleitet zwei Damen mit Strohhut in den Gemüsegarten des Dorfs, sie haben sich bei ihr eingehakt. Der Garten ist fester Bestandteil des Programms. Zusammen pflücken sie Himbeeren und gießen die Tomaten. Die eigentliche, härtere Gartenarbeit machen Freiwillige.
Die Idee hinter der betreuten Gartenarbeit: Die Menschen im Dorf sollen alltägliche Dinge tun. So kämen sie mit anderen Bewohnern ins Gespräch und würden ihr Sozialleben weiterführen, erklärt Pflegerin Heidet:
Dadurch bleiben sie so selbstständig wie möglich.
Jenny Heidet, Pflegerin Village Landais Alzheimer
Gärtnern fördert die sozialen Kontakte.Quelle: ZDF

Höherer Personalaufwand und viele Freiwillige

Generell beruhe hier so viel wie möglich auf dem freien Willen. In herkömmlichen Einrichtungen gebe es zum Beispiel feste Wasch- und Esszeiten, alleine schon aufgrund der sehr begrenzten Zeit des Personals. Hier entscheiden die Bewohner selbst, wann sie was machen möchten.
Für diese eingeräumte Freiheit braucht es mehr Personal als in herkömmlichen Einrichtungen. Auf gut 120 Bewohner kommen 120 Angestellte, inklusive Kantine und Verwaltung. Zusätzlich gut 80 Freiwillige, die regelmäßig ins Dorf kommen, um zu helfen.
Zusammen mit den Bewohnerinnen und Bewohnern schäkern sie beim Bepacken des Wagens im Einkaufsladen und bewundern die Fortschritte, die ihre Schützlinge beim Stricken des Schals gemacht haben.
Intensive Betreuung ist normal im Village Landais Alzheimer.Quelle: ZDF

Forschung sieht Vorteile im Alzheimerdorf

Professorin Hélène Amieva von der Universität Bordeaux begleitet das Alzheimerdorf mit einem Forschungsprojekt seit seiner Eröffnung im Jahr 2020.
Schon jetzt vor Ende der Studie zeichne sich ab, dass es den Erkrankten im Dorf deutlich besser gehe: "Es gibt keinen Bruch, wenn die Menschen in das Dorf kommen."
In herkömmlichen Einrichtungen verschlimmern sich die Symptome der Alzheimererkrankten normalerweise in den ersten sechs Monaten, ihre Lebensqualität verringert sich. Diese Beschleunigung des Krankheitsverlaufs beobachten wir im Alzheimerdorf nicht.
Hélène Amieva, wissenschaftliche Begleiterin Alzheimerdorf

Modellprojekt um Alzheimerbetreuung zu verbessern

Diese intensive Betreuung hat ihren Preis: 29 Millionen für den Bau, gut sieben Millionen Euro pro Jahr Betriebskosten - und das für 120 Alzheimererkrankte. Die Bewohnerinnen und Bewohner sollen dabei nicht mehr bezahlen als in einem herkömmlichen Pflegeheim. Der Großteil wird von öffentlichen Geldern finanziert.
Derzeit leben gut 900.000 Menschen mit Alzheimer in Frankreich. Weil die Bevölkerung auch in Frankreich altert, wird diese Zahl in den kommenden Jahren wachsen. Alle Alzheimererkrankten in so einem Dorf unterzubringen, sei damit zumindest mittelfristig unrealistisch, so Amiéva, doch das sei auch gar nicht das Ziel:
Wir untersuchen ein Lebens- und Begleitmodell und wollen möglichst viele Lehren aus dem Projekt ziehen, wie man mit solchen Personen umgeht.
Hélène Amieva, Universität Bordeaux

Lange Warteliste für Village Landais Alzheimer

Der sich abzeichnende Erfolg des Projekts spricht sich herum. Schon jetzt, drei Jahre nach seiner Eröffnung, haben sich andere Gemeinden in Frankreich nach dem Projekt erkundigt, sagt Dorfleiterin Berthier. Und die Warteliste ist lang.

Friseurmeisterin Martina Schäfer hat sich auf die Arbeit mit Demenzkranken spezialisiert. Denn: Demente Kunden brauchen eine besondere Atmosphäre und Ansprache.

19.06.2023 | 04:06 min
Auch Carine Destouesse wünscht sich einen Platz für ihre Mutter, die einmal die Woche in das Dorf kommt. Heute machen sie, zusammen mit einer anderen Bewohnerin, einen Spaziergang und schauen sich die beiden Esel im Dorf an.
Ihre Mutter hier unterzubringen, sei für sie sehr viel weniger schmerzhaft, als sie in ein klassisches Heim zu stecken, sagt Destouesse. Denn hier werde versucht, das Menschliche zu bewahren.
Und die Bewohnerinnen und Bewohner? Häufig können die zwar keine zusammenhängenden Gespräche mehr führen. Eine Sache aber sagen die meisten, wenn man sie fragt: "Uns geht’s gut hier".

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