: Wie eine Influencerin Scharfschützin wurde
von Aaron Wörz
30.03.2023 | 08:14 UhrDiese Geschichte stammt aus einer ZDFzeit-Doku, die Sie hier anschauen können.
Die meisten ukrainischen Männer haben keine Wahl. Sie dürfen das Land nicht verlassen und können jederzeit vom Militär eingezogen werden. Im Gegensatz dazu ist es ukrainischen Frauen nicht verboten, die Landesgrenze zu passieren. Doch viele wollen nicht. Etwa 50.000 Frauen kämpfen in der ukrainischen Armee, davon 5.000 an der Front.
Kampfname: "Ukrainische Jeanne D'Arc"
Auch Ewgenia Emerald hätte nach Kriegsbeginn aus der Ukraine fliehen können. Sie hätte in Sicherheit verfolgen können, wie die ukrainische Armee verbittert um einzelne Städte und die Zukunft des Landes kämpft.
Aber die 29-Jährige hat sich anders entschieden. Sechs Monate lang kämpfte sie freiwillig als Scharfschützin und jagte russische Offiziere an der Front.
In der Ukraine ist Emerald inzwischen eine kleine Berühmtheit. Im Militär gab man ihr den Kampfnamen "ukrainische Jeanne D’Arc" - angelehnt an die französische Nationalheldin im Hundertjährigen Krieg.
Unternehmerin mit paramilitärischer Ausbildung
Vor dem Krieg gehört Emerald zu einer modernen Generation von Unternehmerinnen und Unternehmern in Kiew. Sie ist alleinerziehend, hat eine kleine Tochter und besitzt ein eigenes Schmuck- und Modelabel, für das sie selbst auf Instagram modelt. Und sie hat Pläne für die Zukunft. Nur einen Monat vor dem Krieg gründete sie mit einer Freundin eine Interessensgemeinschaft für Freizeitunternehmer.
Als die russische Armee am 24. Februar 2022 die Ukraine überfällt, ist für Emerald aber schnell klar: Sie will ihr Land verteidigen. Schon vor ihrer Zeit als Unternehmerin absolvierte sie eine paramilitärische Ausbildung und ist Reservistin in der ukrainischen Armee. Kurz nach Kriegsbeginn meldet sie sich zum Kampf.
Männer in der Armee waren "zweites Schlachtfeld"
Emerald hat von Kindesbeinen an gelernt, mit einer Waffe umzugehen. Die Ukrainerin kommt aus einer Familie, in der Jagen und Schießen zur Freizeitbeschäftigung gehörten.
Als ich ein kleines Mädchen war, schenkte mir mein Vater ein Spielzeugmaschinengewehr. Ich lief damit herum und spielte mit den Jungs.
Beim Militär wird Emerald als Frau anfangs nicht ernstgenommen. Soldaten hätten sie für eine Köchin oder Sanitäterin gehalten, erzählt sie. "Sie dachten, ich sei eine Art It-Girl, das nach einer Woche nach Hause laufen würde. Aber das bin ich nicht."
Sehen Sie hier die komplette ZDF-Dokumentation, aus der diese Geschichte stammt, und die auf dem YouTube-Kanal von ZDFheute schon über zwei Millionen Mal angeschaut wurde:
Emerald trainiert hart und bringt ihren Körper an die Grenzen der Belastung. Im ersten Monat verliert sie zehn Kilogramm Gewicht, ihre Periode bleibt aus.
Ich hatte ein doppeltes Schlachtfeld. Das erste war der Feind und das zweite waren die Männer in der Armee.
Dazu kommen die Sorgen um ihre Familie, allen voran um ihre Tochter. Ihr Ex-Mann bringt sie nach Beginn der russischen Invasion in den Westen der Ukraine. Von dort flüchten sie mit Verwandten ins Ausland. Die ständige Sorge lässt nach und Emerald erarbeitet sich in den Respekt ihrer männlichen Kollegen in der Armee.
Krieg hautnah mit Videos von der Front
In den ersten Wochen des Krieges soll ihre Einheit umkämpfte Gebiete verteidigen. An der Front nimmt sie regelmäßig Videos auf, teilt Eindrücke aus ihrem Kriegsalltag in den sozialen Medien. Einmal singt sie in Kampfmontur vor einem zerstörten Panzer. Die Posts machen sie berühmt. Heute folgen ihr knapp 70.000 Menschen auf Instagram.
Insta-Video von Ewgenia Emerald:
Im Verlauf des Krieges verändern sich die Aufgaben ihrer Einheit. Sie wird zunehmend auf Angriffsmissionen geschickt. Emeralds Aufgabe als Scharfschützin sei es gewesen, immer zuerst die feindlichen Offiziere zu erschießen.
Ein Scharfschütze gibt einen, vielleicht zwei Schüsse ab. Nach dem zweiten Schuss kennt der Feind deine Position. Dann versuchen sie, dich mit schweren Waffen auszuschalten.
In den sechs Monaten an der Front wird ihr Einheit auch nach Butscha verlegt. Was die Scharfschützin dort sieht, hat kaum etwas mit ihren Erinnerungen an die Stadt zu tun: "Sie war wunderschön. Jetzt lag alles in Trümmern."
Heiratsantrag im Fronturlaub
Aus Einsamkeit beginnt sie, während des Einsatzes mit einem befreundeten Soldaten zu chatten. Die beiden verstehen sich ungewöhnlich gut und teilen ihre Treffen in den sozialen Medien. Bei einem gemeinsamen Fronturlaub in Kiew verloben sie sich - live übertragen im Netz.
Der Verlobungsantrag auf Instagram:
Einigen Wochen nach der Verlobung hat Emerald plötzlich Heißhunger im Schützengraben. Sie macht einen Schwangerschaftstest. Das Ergebnis: Sie erwartet ein Kind.
Als ich feststellte, dass ich schwanger bin, habe ich die ersten 30 Minuten geweint.
Ihre Trauer gilt aber vor allem dem Abschied vom Krieg und der Arbeit als Scharfschützin, erzählt sie. Als sie ihrem Führungsoffizier von der Schwangerschaft erzählt, wird sie von der Front abgezogen.
Kampf gegen Russland für die Zukunft ihrer Kinder
Im Herbst vergangenen Jahres heiratet sie den Vater des Kindes. Wieder wird das Ereignis live in den sozialen Netzwerken übertragen. Bei der Trauung in einem Wald trägt ihr Mann Uniform, sie ein weißes Kleid, eine Militärjacke um die Schultern geworfen.
Auf ihren Videos bei Instagram ist Emerald mittlerweile mit großem Babybauch zu sehen. Zum zweiten Mal wird sie Mutter eine Tochter. Aus Kiew macht sie aktuell Werbung für Militärkleidung, die extra für Frauen angefertigt wurde. Danach gefragt, warum sie im vergangenen Jahr unbedingt in den Krieg ziehen wollte, antwortet sie:
Ich will nicht, dass meine Tochter jemals kämpfen muss. Ich möchte, dass sich ihre Generation in einem friedlichen und freien Land entfalten kann. Damit nie wieder Krieg ist.
Ukraine: Hier können Sie spenden
Wenn Sie helfen wollen, können Sie das durch eine Spende tun. Alle Informationen hierzu im Überblick.
Wie arbeitet das Aktionsbündnis?
Das Aktionsbündnis Katastrophenhilfe hilft Menschen in der Ukraine und auf der Flucht. Gemeinsam sorgen die Organisationen Caritas international, Deutsches Rotes Kreuz, Diakonie Katastrophenhilfe und UNICEF Deutschland für Unterkünfte und Waschmöglichkeiten, für Nahrungsmittel, Kleidung, Medikamente und andere Dinge des täglichen Bedarfs. Auch psychosoziale Hilfe für Kinder und traumatisierte Erwachsene ist ein wichtiger Bestandteil des Hilfsangebots.
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Quelle: ZDFzeit