: Hitlers "Machtergreifung" heute noch denkbar?

von Mirko Drotschmann
29.01.2023 | 08:06 Uhr
Vor 90 Jahren wurde Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt. Auch heute hat unsere Demokratie ihre Feinde. Hält unser System das aus?

Fiktives Szenario im Frühjahr 2023 im Berliner Bundestag: Um 12:58 Uhr Ortszeit durchbrechen Schüsse die parlamentarische Routine. Erschrocken erheben sich die Abgeordneten von ihren Plätzen, einige ducken sich panisch unter die vor ihnen liegenden Tische. Die Türen springen auf und drei Dutzend bewaffnete Männer in Tarnjacken stürmen in den Plenarsaal. Der Bundestag und die Regierung seien ab jetzt Gefangene der neuen Reichsregierung, ruft ihr Anführer. Dazu gibt er drei Warnschüsse ab. Der Adler hinter dem Rednerpult wackelt bedrohlich.

Terra-X-Kolumne auf ZDFheute

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Razzia 2022 verhindert Staatsputsch

Es ist der Anfang einer Geschichte, wie Anhänger der Reichsbürgergruppierung "Fürstentum Deutschland" sie vermutlich gerne in die Tat umgesetzt hätten. Ein Staatsstreich im Herzen unserer Demokratie - und der Startschuss für eine autokratische Monarchie auf deutschem Boden.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz beendet mit einer Razzia im Dezember 2022 jegliche Vorhaben. Die Krönung von Heinrich XIII. Prinz Reuß als Staatsoberhaupt blieb aus. Aber eine Frage drängt sich trotzdem auf, insbesondere zum 90. Jahrestag der sogenannten Machtergreifung durch die NSDAP und Adolf Hitler: Ist unsere Demokratie tatsächlich ausreichend wehrhaft? Oder könnte sich der 30. Januar 1933 in absehbarer Zeit wiederholen?

Hitler nutzt Wirtschaftskrise aus

Dabei hilft der Blick in die Vergangenheit: Deutschland, Anfang der 1930er-Jahre. Die junge Demokratie der Weimarer Republik steckt in einer Wirtschaftskrise mit Massenarbeitslosigkeit und Zukunftsangst. Viele machen die Weimarer Regierung für das erlebte Elend verantwortlich.
Adolf Hitler nutzt diese Situation geschickt aus. Er benennt die vermeintlich Schuldigen - die politische Elite, den "internationalen Finanzkapitalismus", die Juden -, mahnt zur Geschlossenheit der "Volksgemeinschaft" und stilisiert sich zum "Führer", der für jedes Problem eine passende Lösung hat. Die Masche funktioniert.

Wie kommen die Nationalsozialisten an die Macht? Und warum erhält Hitler so viel Zustimmung?

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Demokratische Strukturen wurden durch Hitler abgeschafft

1933 kommen andere Parteien kaum an den Nationalsozialisten vorbei, wenn sie mehrheitsfähig sein wollen. Reichspräsident und Demokratieverächter Paul von Hindenburg macht Hitler zum Reichskanzler. Ein fataler Fehler.
Hitler zieht alle Register, die die Weimarer Verfassung ihm bietet. Mit Notverordnungen und dem Ermächtigungsgesetz konzentriert er immer mehr Macht auf sich. Stück für Stück hebeln er und seine Schergen das demokratische System aus den Angeln. Zwölf lange Jahre spielen demokratische Strukturen auf deutschem Boden keine Rolle mehr.

Was unterscheidet uns heute?

2023 feiern wir 74 Jahre Grundgesetz, Demokratie, Rechtsstaat und Freiheit. Deutschland steckt zwar in der Krise, aber die Verhältnisse von 1933 sind weit entfernt. Damals war zeitweise jeder dritte Deutsche arbeitslos. Soziale Sicherungssysteme waren hoffnungslos überlastet. Die junge Demokratie konnte nie richtig Fuß fassen und war wegen der starken Machtfülle des Reichspräsidenten, der Schwäche des Parlaments nur unzureichend gegen Umstürze gerüstet.

Was leistet unser Grundgesetz - und was nicht? Welche Rolle spielt jeder Einzelne?

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Heute ist das anders: Wer unsere Verfassung ändern und demokratische Elemente schwächen möchte, braucht eine Zweidrittelmehrheit - im Bundestag und im Bundesrat. Die ist für eine einzelne Partei kaum zu schaffen. Dazu garantieren uns die unveränderlichen "Ewigkeitsklauseln", dass auch bei einer Verfassungsänderung unsere Grundrechte und damit ein demokratisches System bestehen bleiben. Wer unserer Demokratie an den Kragen will, bekommt es zudem mit dem Bundesverfassungsgericht zu tun. So war es in der Vergangenheit immer wieder. Die große Macht in den Händen einiger Weniger? Kaum möglich.

Gewalt statt Gesetze?

Was aber, wenn sich potenzielle Umstürzler gar nicht für den Marsch durch die Institutionen interessieren - und lieber mit gezückter Waffe das Parlament stürmen?
Theoretisch könnten Milizen zwar kurzzeitig lokal die Kontrolle an sich reißen. Aber für eine dauerhafte Machtsicherung braucht es deutlich mehr. Nicht ohne Grund sind Militär, Geheimdienste und Polizei in Deutschland streng voneinander getrennt. Selbst wenn es gelingen sollte, eine Seite zu unterwandern, droht massiver Widerstand von anderer Seite. Den Putschisten würde ein Eingriff der Nato drohen, die mit den USA in großer Truppenstärke in Deutschland vertreten ist.
Aber auch das sollte nicht unerwähnt bleiben: Unsere Demokratie ist zwar standfest, wehrhaft und mindestens doppelt so stabil wie 1933. Doch das alles schützt sie nicht komplett vor ihren Feinden, die schon seit einiger Zeit Gift in die Gesellschaft träufeln. Vor allem über die sozialen Netzwerke. Ihre Werkzeuge: Hetze, Verunglimpfung demokratischer Institutionen und Spaltung der Gesellschaft. Dieses Gift wirkt.

Würde Hitler im 21. Jahrhundert denselben rasanten Aufstieg erleben? Und würde Facebook dabei helfen?

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Sinkender Zuspruch für die Demokratie in Deutschland

Laut dem aktuellen Bericht des Ostbeauftragten der Bundesregierung sind nur noch 39 Prozent der Menschen in Ostdeutschland zufrieden mit unserer Demokratie. 2020 waren es noch 48 Prozent. Es müsse einen "starken Führer" geben, "der sich nicht um Parlamente und Wahlen kümmern muss" - sagt laut einer Studie der Otto-Brenner-Stiftung aus dem Jahr 2019 jeder Fünfte damals unter 30-Jährige in Deutschland.
Und bei einer ZDF-Befragung durch die Forschungsgruppe Wahlen im Jahr 2020 stimmten 28 Prozent der Befragten der Aussage zu, die Deutschen sollten einen Schlussstrich unter die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus ziehen.
Das alles deutet nicht auf ein drohendes Ende unserer Demokratie hin. Aber es mahnt uns, wachsam zu sein. Denn auch, wenn unsere demokratische Grundordnung sicher an vielen Stellen reformbedürftig ist - Stichworte: Lobbyismus, Bürgerbeteiligung, soziale Schieflage: Die meisten Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte verdanken wir ihr. Und genau das sollten wir niemals vergessen.

Wie konnte ein Niemand binnen weniger Jahre zum Diktator aufsteigen? Die erste Folge der dreiteiligen Dokureihe.

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Mirko Drotschmann ...

... ist Historiker und Journalist. Für Terra X erklärt er im TV historische Zusammenhänge und im Internet die Welt. Auf Youtube ist er bekannt als MrWissen2Go Geschichte und auch auf Instagram sorgt er für die tägliche Dosis an historischem Wissen. Außerdem ist er eingefleischter KSC-Fan.

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