: Offensive der Ukraine nimmt weiter Fahrt auf

von Christian Mölling und András Rácz
07.09.2023 | 07:44 Uhr
Die Ukraine hat die ersten Befestigungen der "Surowikin-Linie" bei Verbove durchbrochen. Trotz spärlicher Informationen gibt es Hinweise, dass Russlands Reserven gering sind.
Die ukrainische Armee hat nach eigenen Angaben an der Frontlinie weitere Erfolge erzielt.Quelle: Ukrinform/dpa
Die ukrainische Gegenoffensive gewinnt an der Frontlinie in Saporischschja langsam weiter an Fahrt. Nach der Befreiung von Robotyne drangen die ukrainischen Streitkräfte nach Osten und Südosten in Richtung Verbove bzw. Ocheretuvate vor. Die wenigen verfügbaren visuellen Aufnahmen lassen gewisse Rückschlüsse zu.

"Surowikin-Linie": Wenig Widerstand bei ersten Befestigungen

Zunächst gelang es den ukrainischen Truppen westlich von Verbove, die ersten Befestigungen der sogenannten "Surowikin-Linie" - also die erste durchgehende Schicht der russischen Befestigungen - zu durchbrechen.
Der Name bezieht sich auf General Sergej Surowikin, der im Herbst 2022 für die russischen Operationen in der Ukraine verantwortlich war und unter dessen Kommando der Bau dieser Befestigungen begann.
Dabei wurden nicht nur die Panzerabwehrgräben überwunden, sondern die ukrainischen Truppen drangen auch bereits in die Infanteriegräben ein. Dies deutet darauf hin, dass die russischen Truppen an diesem Abschnitt der Frontlinie eindeutig unterlegen waren und ihre etablierten Verteidigungspositionen aufgeben mussten.

Durchbruch der zweiten Linie wäre strategisch bedeutsam

Zweitens handelt es sich bei diesen Fortschritten auf der Grundlage der kaum vorhandenen visuellen Beweise noch nicht um einen vollständigen Durchbruch, sondern eher um eine lokale Bresche. Dies hat mehrere Gründe: Es ist unklar, wie breit der Abschnitt ist, in dem es den ukrainischen Truppen gelang, die russischen Verteidigungslinien zu durchbrechen.
Es ist auch nicht bekannt, ob es ihnen gelungen ist, diese Bresche zu schließen und tiefer vorzudringen. Außerdem war dies nur die erste Linie der "Surowikin-Linie". Solange die zweite Linie nicht ebenfalls durchbrochen ist, kann man nicht von einem strategisch bedeutsamen Durchbruch sprechen.

Es komme der Punkt, an dem die Ukraine in der Lage sei, das "Maximum ihrer Kräfte zu entfalten", sagt Militärexperte Keupp bei ZDFheute live.

01.09.2023 | 26:18 min

Schlüsselpositionen noch nicht genommen

Drittens ist die Bresche bei Verbove noch nicht entscheidend für das weitere Vorrücken in Richtung des Hauptziels in dieser Richtung, Tokmak, solange die Russen ihre Stellungen südlich von Robotyne, bei Nowoprokopiwka, halten können. Solange Nowoprokopiwka in russischer Hand ist, blockiert es effektiv den Krieg in Richtung Tokmak. Sollte es der Ukraine jedoch gelingen, auch Nowoprokopiwka zu befreien, würde sich die Position der russischen Streitkräfte in dieser Region erheblich verschlechtern.
Ausgehend von den aus offenen Quellen verfügbaren Indikatoren verfügt Russland sicherlich nicht über reichlich Reserven, um die durchbrechenden ukrainischen Truppen zu stoppen. Die einsatzfähigen Reserven sind so gering, dass Russland - wie wir bereits berichteten - Eliteeinheiten aus der Kupjansker Offensive verlegen musste, um den ukrainischen Vormarsch nach der Befreiung von Robotyne zu stoppen.

Dr. Christian Mölling ...

Quelle: DGAP
... ist Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin und leitet dort das Programm Sicherheit, Verteidigung und Rüstung. Er forscht und publiziert seit über 20 Jahren zu den Themenkomplexen Sicherheit und Verteidigung, Rüstung und Technologie, Stabilisierung und Krisenmanagement. Für ZDFheute analysiert er regelmäßig die militärischen Entwicklungen im Ukraine-Konflikt.

Dr. András Rácz ...

Quelle: DGAP
... ist Associate Fellow im Programm Sicherheit und Verteidigung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. Er forscht und publiziert zu Streitkräften in Osteuropa und Russland und hybrider Kriegsführung.

Krieg mit Bildern und Informationen

Bemerkenswert ist die relative Abwesenheit von Bildmaterial, das ukrainische Verluste in der russischen Blogosphäre dokumentiert. Zu Beginn der Gegenoffensive, als ein ukrainischer Panzerverband in Kompaniestärke in Richtung Orichiw vernichtet wurde, verbreiteten russische Militärblogger wochenlang das Bildmaterial über eben diese Verluste. Diesmal gibt es jedoch nur sehr wenige russische Bilder, die ukrainische Verluste dokumentieren, die über einzelne Fahrzeuge oder hier und da zerstörte Waffen hinausgehen.

Ein russischer Luftangriff in der Ostukraine kostet mindestens 17 Menschen das Leben.

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Hätte die Ukraine eine entscheidende Niederlage und/oder katastrophale Verluste erlitten, würde Russland sicherlich alles daran setzen, die entsprechenden Bilder zu verbreiten, um die Niederlage der Ukraine auch in der Informationssphäre deutlich zu machen. Bislang ist jedoch nichts dergleichen geschehen. Dies ist ein indirektes Indiz dafür, dass der ukrainische Vorstoß im Raum Robotyne-Verbove wohl noch relativ gut voranschreitet.
Ein weiterer Indikator sind die vorsichtigen, aber dennoch deutlich kritischen Äußerungen russischer Militärblogger über die Schwächen der russischen Fähigkeiten zur Batterieabwehr sowie die wiederholten Beiträge über die Feuerkraft der ukrainischen Artillerie.

Noch ist Zurückhaltung angebracht

Sicher ist, dass entlang der gesamten Kontaktlinie extrem schwere Kämpfe stattfinden. Alles in allem kann unter Berücksichtigung des dichten "Kriegsnebels" und des Mangels an zuverlässigem Bildmaterial mit Sicherheit festgestellt werden, dass die erste Schicht der russischen Hauptverteidigungslinien durchbrochen wurde. Ob sich dieser Durchbruch zu einem echten Durchbruch entwickeln kann, wird sich in den kommenden Tagen und Wochen zeigen.
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