: 14 Jahre Orban: Was sagen die Ungarn?

von Christian von Rechenberg
01.07.2024 | 02:31 Uhr
Alleinherrscher, Autokrat, Abwracker der Demokratie - so schimpfen seine Gegner auf Viktor Orban. Am 1. Juli übernimmt Ungarn den Ratsvorsitz der EU.

Für die kommenden sechs Monate übernimmt Ungarn den Ratsvorsitz in der Europäischen Union. Der ungarische Ministerpräsident Orban ist für seine EU-kritische Haltung bekannt.

01.07.2024 | 00:25 min
Damit es kein Missverständnis gibt. Viktor Orban ist kein Gegner der EU. Im Gegenteil: Er weiß, dass 70 Prozent seiner Landsleute die EU befürworten.
Außerdem braucht er die Millionen aus den EU-Fördertöpfen, um seine marode Wirtschaft zu sanieren. Und schließlich braucht er die EU als Sündenbock, auch für die Probleme im Land, die er mehr oder weniger selbst zu verantworten hat.

Ungarn übernimmt turnusgemäß den EU-Ratsvorsitz

Ungarn übernimmt am heutigen Montag die alle sechs Monate wechselnde EU-Ratspräsidentschaft. Bis Ende des Jahres hat das Land damit den Vorsitz der Ministerräte inne und kann diese maßgeblich beeinflussen. Hat ein Mitgliedsstaat die EU-Ratspräsidentschaft inne, muss er dafür sorgen, dass die Arbeit des Rates systematisch vorangeht und Entscheidungen gefällt werden. Eine weitere wichtige Aufgabe besteht in der Vertretung des Rates gegenüber den anderen EU-Institutionen, vor allem gegenüber der Kommission und dem EU-Parlament.

Budapest hat seine Ratspräsidentschaft unter das Motto "Make Europe Great Again" (Macht Europa wieder groß!) gestellt - eine Anlehnung an den Slogan "Make America Great Again" des früheren US-Präsidenten Donald Trump, dessen erklärter Anhänger Ministerpräsident Viktor Orban ist.

Orban steht seit Jahren wegen der Aushöhlung der Demokratie in seinem Land in der Kritik und liegt mit Brüssel etwa bei der Migrationspolitik und der Unterstützung der Ukraine über Kreuz. Zur Vertretung seiner Interessen kündigte der ungarische Regierungschef am Sonntag die Gründung einer neuen Rechtsaußen-Fraktion mit dem Namen Patriots for Europe (Patrioten für Europa) im Europaparlament an. (Quelle: AFP)

Orban will Europas Geld, nicht seine Werte

Was er nicht braucht, sind die Werte und Regeln der EU, auf deren Basis Brüssel derzeit 20 Milliarden Euro zurückhält, bis Orban vollständige Rechtsstaatlichkeit wiederherstellt. Die Bedingung ist für beides: Mitgliedschaft und Millionen.

Die EU vor der Wahl: Ein Netzwerk aus Firmen und Stiftungen betreibt massiv Stimmungsmache gegen die liberalen Demokratien Europas. Sein Sitz: das autokratisch regierte Ungarn.

29.05.2024 | 28:44 min
Und so geht Orban seit Jahren nicht auf die EU los, sondern auf Brüssel. Verkauft seiner Bevölkerung etwa die Russland-Sanktionen als wahren Grund für steigende Preise im Land. Obwohl die Ursachen hausgemacht seien, etwa durch falsche Weichenstellung in der Wirtschaftspolitik, so Zoltán Ranschburg vom unabhängigen Thinktank Republikon.
Orban müsse zudem ein ganzes Netz aus willfährigen Oligarchen mit Aufträgen versorgen. Diese Aufträge waren bisher meist von der EU mitfinanziert. "Die Unterstützung dieser Leute und die Präsenz dieser Leute in der ungarischen Wirtschaft", so Ranschburg, seien für Orbans Partei entscheidend.
Und so leidet die ungarische Wirtschaft zusätzlich darunter, dass diese Oligarchen bezahlt werden müssen.
Zoltán Ranschburg, Republikon Institute

Ungarn: Bürger sind wütend über Korruption

Bezahlt heißt, dass sie lukrative staatliche Aufträge bekommen, auch wenn der Staat sich diese im Moment gar nicht leisten kann. Die Folgen trägt der kleine Mann, und die kleine Frau.

Europa war für Ungarn, Slowenen, Tschechen und Slowaken das Versprechen von Freiheit, Wohlstand und Sicherheit. Was ist daraus geworden, was hat sich in 20 Jahren EU verändert?

25.04.2024 | 44:15 min
Teresia Márk hat in der Nähe von Eger, eine Stunde nördlich von Budapest, ein kleines Häuschen und allerlei Sorgen. Sie war früher Kindergärtnerin, bekommt heute umgerechnet 500 Euro Rente. Die Preise sind in den letzten Jahren durch die Decke gegangen.
Um über die Runden zu kommen, muss die 65-Jährige arbeiten. Acht Stunden am Tag näht sie kleine Stoffherzen und Kräutersäckchen. 250 Euro im Monat bringt ihr das ein. Sie hat Wut im Bauch - denn woanders würden sie sich die Taschen vollstecken.
Ich sage nur: Korruption. Wer nicht Schwager, Kumpane und Freund von irgendjemandem da Oben ist, wer keine Beziehungen hat, der braucht sich nicht einbilden, dass das Schicksal es mal gut mit ihm meint.
Teresia Márk, Rentnerin
Wie Teresia Márk denken viele in Ungarn, doch nicht alle. Dániel Benkó hat eine kleine Käserei im gleichen Ort. Dank eines Förderprogramms der EU wurde sein Traum vom Milchbauern wahr. Heute aber sagt er, kämpfe er ums Überleben, da die EU nur große Betriebe unterstütze, also die Konkurrenz.
Dass Orban Alarm macht gegen die EU, findet er gut. Und, dass es extra Geld gibt von der Regierung.
Wir bekommen für jede unserer Kühe eine extra Unterstützung. Damit kann ich Futter für drei bis vier Monate kaufen. Und das ist eine bedeutende Einnahme.
Dániel Benkó, Landwirt

Zoltan ist Lehrer und damit eigentlich eine begehrte Fachkraft. Aber er hat vor wenigen Monaten den Schuldienst freiwillig verlassen.

15.04.2024 | 02:30 min

Europawahl brachte Klatsche für Orban

Orban ist Profi. Er weiß, welche Knöpfe er drücken muss, um Wahlen zu gewinnen. Bis 2020 war es der Wohlstand, den die Ungarn Jahr für Jahr anhäuften. Solange es dem Land gut ging, verziehen ihm die Ungarn viel: Die Erosion der Pressefreiheit, das kaputte Gesundheitswesen, die grassierende Vetternwirtschaft, die Propaganda gegen Minderheiten und Migranten.
Nun aber merken die Ungarn die Probleme im Geldbeutel. Dass die Mehrheit nicht mehr hinter ihm steht, hat Orban spätestens bei der Klatsche seiner Fidesz-Partei in der Europawahl Anfang Juni bemerkt. Aus dem Stand eroberte Ex-Fideszmitglied und Orbans neuer Widersacher Peter Magyar sieben Sitze, mit denen er bereits Teil der großen EVP-Fraktion im EU-Parlament geworden ist.

Die schwierige wirtschaftliche Situation in Ungarn macht Ministerpräsident Viktor Orban zu schaffen. Überraschend gut hat die Partei von Herausforderer Péter Magyar abgeschnitten.

09.06.2024 | 03:14 min
Als sich das Debakel abzeichnete, wurde Orbans Wettern gegen Brüssel noch lauter: No gender, no migration, no war. Keine Gendersprache, keine Migration, kein Krieg. Die Hetze half ihm zumindest, den Schaden in Grenzen zu halten.
Orban könnte sein halbes Jahr an der Spitze des Rates der EU also nutzen, um diese Themen in den Mittelpunkt zu stellen, sagen Beobachter. Verhindern kann er Beschlüsse der EU, die ihm unbequem sind, zwar nicht.
Aber er kann sie verzögern. Und eigene Schwerpunkte setzen. Jene, die ihm nützen. Wie gesagt, er ist kein Gegner der EU, solange jedenfalls, wie er dank ihrer Hilfe sein System-Orban in Ungarn am Leben halten kann.
Christian von Rechenberg ist Korrespondent im ZDF-Studio Wien und zuständig für Osteuropa.

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