: "Am Rande einer humanitären Katastrophe"

von Nina Niebergall
23.12.2022 | 12:08 Uhr
Seit Tagen blockiert Aserbaidschan den Zugang zu Bergkarabach. Armenier kommen weder rein noch raus. Lebensmittel und Medikamente werden immer knapper.
Frauen in einem Schutzraum in Berg-KarabachQuelle: dpa
Tigran Grigorjan wird die Feiertage wohl nicht mit seiner Mutter verbringen können. Denn die lebt in Bergkarabach – er in der armenischen Hauptstadt Jerewan.
Grigorjan ist politischer Analyst und beschäftigt sich beruflich schon lange mit dem Konflikt um Bergkarabach, und den Kriegen zwischen Armenien und Aserbaidschan. Doch immer wieder ist er auch persönlich betroffen.
Tigran Grigorjan ist politischer Analyst aus Armenien.Quelle: ZDF/Nina Niebergall
Meine Mutter hat Diabetes, und sie hat Probleme, ihre Medikamente in den Apotheken zu kaufen. Zum Glück hat sie irgendwann eine Drogerie gefunden, wo es die Medizin gibt, die sie braucht.
Tigran Grigorjan, Politischer Analyst

Aserbaidschan blockiert Latschin-Korridor

Aserbaidschan blockiert seit dem 12. Dezember den sogenannten Latschin-Korridor. Ein nur wenige Kilometer breiter Streifen - und die einzige Verbindung zwischen Armenien und Bergkarabach. 120.000 Menschen sind seitdem abgeschnitten von Lebensmittellieferungen, von Krankenhäusern, Benzin ist knapp.

Auf seine einstige Schutzmacht Russland kann sich Armenien nicht mehr verlassen. Immer wieder wird das Land von Aserbaidschan angegriffen. Viele Menschen haben nun Angst vor einer Invasion.

29.11.2022 | 12:57 min
Am Donnerstag forderte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Aserbaidschan auf, den Korridor für kranke und notleidende Armenier*innen freizugeben.
Das Land steht am Rande einer humanitären Katastrophe. Es gibt jetzt schon eine erhebliche Lebensmittelknappheit.
Tigran Grigorjan, Politischer Analyst
Um Bergkarabach, eine selbsterklärte, aber nicht anerkannte Republik, liefern sich Armenien und Aserbaidschan immer wieder blutige Kämpfe. Die Region gehört völkerrechtlich zu Aserbaidschan, ist aber fast ausschließlich von Armenier*innen bewohnt.

Die Geschichte Bergkarabachs

Quelle: ZDF
Der Konflikt um Bergkarabach ist Jahrzehnte alt. Das weitgehend von Armeniern besiedelte Gebiet unterstand einst armenischen Fürsten, ehe es Anfang des 19. Jahrhunderts an das russische Zarenreich fiel. Mit Gründung der Sowjetunion wurde das Gebiet aufgeteilt. 1923 fiel ein Teil an die aserbaidschanische Sowjetrepublik, das Kernland wurde ein autonomer Bezirk.

1988 stellte das Gebiet den Antrag, von der Unionsrepublik Aserbaidschan zur Unionsrepublik Armenien zu wechseln. Nach Zerfall der Sowjetunion wurde 1992 die Republik Bergkarabach ausgerufen. Sie ist allerdings diplomatisch von keinem Staat anerkannt - auch nicht von Armenien.

Seitdem gibt es immer wieder blutige Kämpfe mit inzwischen mehreren Zehntausend Toten. Beide Seiten werfen sich Völkermord vor. 2020 kam es erneut zu einem Krieg um die Region, in dessen Folge Aserbaidschan die Kontrolle über weitere Teile gewann. Und im September 2022 hat Aserbaidschan armenisches Kernland angegriffen - mit mehr als 200 Toten auf armenischer Seite und dokumentierten Kriegsverbrechen.

Zugang zu Bergkarabach besetzt von Umweltaktivisten?

Die jüngste Eskalation nun die Blockade des Latschin-Korridors. Nach aserbaidschanischer Darstellung besetzten Umweltaktivisten die Straße nach Bergkarabach, um gegen vermeintliche Verstöße im Bergbau zu protestierten.
Der nicht anerkannte Staatsminister von Bergkarabach, Ruben Vardanyan, kommentierte daraufhin auf Twitter:
Es ist seltsam für ein Land, in dem es keine Freiheit und keine Menschenrechte gibt, dass man versucht, eine solche Kundgebung zu organisieren.
Ruben Vardanyan
Aserbaidschan ist ein autokratisches Land. Die Darstellung, es handele sich um Umweltaktivisten, finden die meisten Beobachter*innen absurd. Der armenische Politikanalyst Tigran Grigorjan nennt mehrere Motive Aserbaidschans.
Unter anderem gehe es Aserbaidschan um einen eigenen Korridor zu seiner Exklave Nachitschewan, die wiederum an den mächtigen Verbündeten grenzt – die Türkei. Ein solcher Korridor aber würde mitten durch armenisches Staatsgebiet führen, und das kleine Armenien außerdem vom Iran abschneiden.

In Bergkarabach geht es auch um Öl und Gas

Eine komplizierte, aber brisante Gemengelage: Denn bei dieser Verbindung geht es auch um Öl und Gas, das auf direktem Wege Richtung Türkei transportiert werden könnte – und weiter nach Europa. Die EU hat erst im Sommer einen Energie-Deal mit Aserbaidschan geschlossen, um unabhängiger von Russland zu werden.
Während der jüngsten Eskalationen in Armenien und Bergkarabach waren Brüssel und auch Berlin auffällig ruhig.
Zusammenfassend sagt Grigorjan, Aserbaidschan nutze die Blockade "als eine Art Druckmittel gegenüber Armenien, um Zugeständnisse in seiner Agenda zu bekommen."
Ich nenne das eine Politik der schleichenden ethnischen Säuberung. Sie wollen nicht direkt ein Massaker verüben, aber tun alles, um den Menschen das Leben unmöglich zu machen. Ihr Ziel ist die Kontrolle über das Territorium – ohne die Menschen darin.
Tigran Grigorjan, Politischer Analyst

Bis heute erheben Armenien und Aserbaidschan Anspruch auf Bergkarabach. 2020 bricht erneut ein Krieg aus.

08.09.2022 | 44:38 min

Russische Friedenstruppen in Bergkarabach

Eigentlich sollen russische Friedenstruppen darüber wachen, dass alle Vereinbarungen in Bergkarabach eingehalten werden. Aber seit Russland die Ukraine angegriffen hat, hält sich Moskau mit Einmischung in den Kaukasus-Konflikt zurück – obwohl es eigentlich als Schutzmacht Armeniens gilt.
Die russische Friedensmission kommt ihren Verpflichtungen zur Kontrolle des Latschin-Korridors nicht nach. Es ist die Schlüsselaufgabe der russischen Friedenstruppen, solche illegalen Aktionen nicht zuzulassen und den Latschin-Korridor unter Kontrolle zu halten.
Nikol Paschinjan, Armenischer Ministerpräsident

Friedensverhandlungen zwischen Armenien und Aserbaidschan stocken

Die Friedensverhandlungen zwischen beiden Ländern stocken. Und Tigran Grigorjan kann sich auch nur schwer eine friedliche Lösung für Bergkarabach vorstellen.
Die Menschen sind tief verwurzelt in Bergkarabach. Ihre Vorfahren sind dort begraben. Und das Trauma, wenn sie Bergkarabach verlassen müssten, wäre für die gesamte armenische Nation so groß, dass Frieden unmöglich wäre.
Tigran Grigorjan, Politischer Analyst
Die internationale Gemeinschaft sollte alles tun, um das zu verhindern, so Grigorjan. Die Menschen hätten das Recht "in ihrer Heimat zu leben". Ohne dort verhungern zu müssen.
Nina Niebergall berichtet als ZDF-Korrespondentin über Russland, die Kaukasus-Region und Zentralasien.

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