: Wo steht die iranische Protestbewegung heute?

von Jörg Brase
19.04.2023 | 15:16 Uhr
Ein halbes Jahr nach dem Beginn der jüngsten Protestwelle ist es wieder ruhiger geworden. Ist die Bewegung am Ende, oder ist es nur die Ruhe vor dem nächsten Sturm?

Jina Mahsa Amini wird wegen ihres Kopftuches in Teheran verhaftet und stirbt. Ihr Tod entfacht eine Protestwelle in Iran. Wo steht das Land heute?

19.04.2023 | 29:11 min
"Was einmal begonnen wurde, kann nicht mehr rückgängig gemacht werden," sagt die Frau auf dem Tadjrish-Platz im Norden Teherans. Es ist der Tag, an dem die Polizei im Iran angekündigt hatte, Verstöße gegen die Kopftuchvorschriften wieder rigoros zu verfolgen.
"Die Frauen und die jungen Leute haben keine Angst mehr vor ihnen. Und das macht mich sehr glücklich," sagt die Frau und geht weiter, ohne Kopftuch, das ihr Haare bedeckt, obwohl es das Gesetz eigentlich verlangt.
Noch vor einigen Wochen waren es mehr Frauen, die hier im Norden Teherans ohne Kopftuch unterwegs waren. Nach dem Tod Mahsa Aminis und dem Beginn der jüngsten Protestwelle Ende September 2022, hatte sich Irans berüchtigte Moralpolizei zurückgehalten, hatte keine Razzien mehr durchgeführt und schließlich hieß es, sie sei ganz abgeschafft. In der Folge wuchs die Zahl der Frauen, die sich ohne Kopfbedeckung auf den Straßen zeigten.

Streit um Kopftuchzwang im Mittelpunkt im Iran

Nach den ersten Hinrichtungen von Demonstranten im Dezember und Januar, ließ die Wucht der Proteste jedoch nach. Sechs Monate seit ihrem Beginn ist es wieder ruhiger geworden im Land, gibt es nur noch vereinzelte Aktionen oder Demonstrationen, vor allem in den kurdischen und sunnitischen Unruheprovinzen.
Doch ist die Protestbewegung deswegen am Ende? Der Streit um den Kopftuchzwang, der alles ins Rollen gebracht hatte, und der nun wieder in den Mittelpunkt rückt, zeigt, dass sich durchaus etwas verändert hat.

In den Westen auswandern ist Option für viele Iraner

Wir haben in den vergangenen sechs Monaten mit vielen Akteuren gesprochen. Akteuren, die beiden Lagern in diesem gespaltenen Land angehören. Da sind wütende Studentinnen und Studenten, für die es zu einem radikalen Regimewechsel keine Alternative gibt.
Da ist die ehemalige Lehrerin, die während Corona und den damit verbundenen Lockdowns ihren Job aufgeben musste und nun versucht, mit einem Online-Shop Geld zu verdienen, um ihre Tochter groß zu ziehen. An den Protesten teilzunehmen ist für sie Ausdruck ihrer Unzufriedenheit. Doch ihr Leben will sie nicht aufs Spiel setzen, will stattdessen auswandern, in den Westen, wie so viele.

Reform oder Revolution im Iran?

Da ist die ehemalige Abgeordnete Parvaneh Salashouri, eine Gegnerin des Kopftuchzwangs, die ebenfalls Veränderungen will. Für sie bedeutet ein Sturz des aktuellen Regimes aber nicht zwangsläufig einen revolutionären Umsturz, sondern die Reform eines korrupten und überlebten Systems.
Oder der ebenfalls dem Reformerlager zuzurechnende, renommierte Politikprofessor Sadegh Zibakalam. Er sieht in der iranischen Gesellschaft durchaus das Potential für eine Revolution. Dieses Potential aber werde nicht ausgeschöpft, da es sowohl an einer Organisation, an Leitfiguren und an einem Plan fehle.

Graben zwischen Volk und Regierung wächst

Alle sind sich einige darin, dass ein loyaler Sicherheitsapparat zurzeit noch stark genug ist, alle Angriffe von innen und außen abzuwehren. Diesen Apparat einzusetzen, um die eigene Macht zu verteidigen, zögert das Regime nicht. Doch steter Tropfen höhle den Stein, meint Zibakalam.
Die nächste Mahsa Amini wartet um die nächste Ecke.
Sadegh Zibakalam, Professor für Politik
Der Widerstand werde dann noch größer sein, ist sich Zibakalam sicher, denn viele junge Leute hätten immer weniger Angst, sich der Staatsmacht entgegen zu stellen. Zurzeit aber macht die unzufriedene Mehrheit noch die Faust in der Tasche.
So ist es zwar jetzt wieder ruhiger geworden im Land, der Graben zwischen Regierung und Volk aber ist wieder ein Stück tiefer und weiter geworden.

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