: Als eine Asyldebatte Menschenleben kostete

von Martin Schiffler
29.05.2023 | 06:01 Uhr
Vor 30 Jahren starben fünf Menschen, als Rechtsradikale das Haus der Familie Genc in Solingen anzündeten. Dass es so weit kommen konnte, lag auch an einer vergifteten Asyldebatte.

Gürsün, Hatice, Gülüstan, Hülya und Saime Genç lauten die Namen der Opfer des rassistischen Brandanschlags von Solingen 1993, der bis heute tiefe Wunden hinterlässt.

22.05.2023 | 07:03 min
Es war der 29. Mai 1993 in Solingen: Fünf Mädchen und Frauen im Alter zwischen vier und 27 Jahren lagen nachts oben in ihren Betten, als junge Rechtsradikale unten den Hausflur in Brand steckten. Die drei Mädchen und zwei jungen Frauen hatten keine Chance, den Flammen und dem Rauch zu entkommen.
Weitere 14 Mitglieder der im Haus lebenden, türkischstämmigen Familie Genç schafften es noch raus, zum Teil schwer verletzt.

Täter aus Solinger Neonazi-Szene

Johannes Rau (SPD), damaliger Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen, sprach von einem der "schrecklichsten Geschehen, das ich in meiner bisherigen Verantwortungszeit erlebt habe".
Ayla Uzun war mit den Gençs befreundet, beide Familien fühlten sich wohl in der Stadt. "Ich war ein Teil von Solingen und bin es bis heute noch".
Es hat mich sehr überrascht, dass es in Solingen passiert ist. Und das hat mir dann hinterher gesagt: Es kann überall passieren!
Ayla Uzun, Freundin der Familie Genç
Eine Woche nach dem Brandanschlag wurden vier junge Männer aus der Solinger Neonazi-Szene als mutmaßliche Täter verhaftet - im Alter zwischen 16 und 23 Jahren.

Bundeskanzler kam nicht zur Trauerfeier

Die Trauerfeier nach dem Brandanschlag wurde später zum Politikum: Bundespräsident Richard von Weizsäcker (CDU) kam zu dem Termin nach Solingen. Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) aber hielt sich fern. Seine Partei fuhr einen harten Anti-Asyl-Kurs.
Die Zahl der Asylsuchenden war damals auf einem Rekordniveau, die politische Debatte extrem aufgeheizt. Viele Bewerber hofften auf die Anerkennung als politische Verfolgte oder Flüchtlinge, denn laut Grundgesetz galt: "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht."
Unter dem Druck der zunehmenden Einwanderung nach Deutschland kam es zu einer Neuregelung des Asylrechts mit dem Ziel, die Verfahren zu beschleunigen und "Asylmissbrauch" zu verhindern. Entgegen allen Protesten stimmte am 26. Mai 1993 die große Mehrheit der Bundestagsabgeordneten für die Gesetzesänderung.

Anschlag in Solingen nach Asyldebatte

Nur drei Tage später kam es in dieser aufgeheizten Stimmung zum Brandanschlag von Solingen, dem Attentat auf die türkischstämmige Familie Genç, die schon lange in Deutschland lebte und gar keine Asylsuchenden waren.
Schon zuvor hatte es Anschläge auf Menschen mit ausländischen Wurzeln in Hoyerswerda, Rostock und Mölln gegeben. Es waren solche rassistischen Angriffe, die die ersten Jahre nach der Wiedervereinigung überschatteten - auch weil die Politik der rechtsradikalen Gewalt wenig entgegenzusetzen hatte.

Vor 30 Jahren griffen mehrere Hundert Menschen in Rostock-Lichtenhagen ein Wohnheim für vietnamesische Gastarbeiter an. In Erinnerung an die Tragödie nimmt Bundespräsident Steinmeier an einer Gedenkveranstaltung in Rostock teil.

25.08.2022 | 02:07 min
Die 90er Jahre haben für viele Menschen mit Migrationsgeschichte auch eine Zäsur bedeutet.
Kemal Bozay, Experte für Radikalisierungsforschung und Prävention
So erklärt es Kemal Bozay, Experte für Radikalisierungsforschung und Prävention, "weil da die Brandanschläge und die Radikalität dieses Rassismus eine ganz andere Dimension eingenommen haben und auch ganz klar spürbar waren."

Mevlüde Genc - Vorbild der Versöhnung

Gewaltig war das Interesse dann beim Prozess zum Solinger Brandanschlag. Im Gericht kam es zu Tumulten und Tränen und am Ende gab es die Höchststrafen: 15 Jahre für den Haupttäter, je zehn Jahre Jugendstrafe für die drei Mittäter. Heute leben die Täter längst wieder in Freiheit. Ohne ein Wort des Bedauerns oder der Entschuldigung in Richtung der Familie Genç.
Die ist in Solingen geblieben. Das Familienoberhaupt Mevlüde Genç wurde zum Vorbild für Versöhnung. In einem ihrer seltenen Interviews betonte sie:
"Ich trage Hass auf vier Menschen. Doch zu meinen Mitbürgern in Solingen hege ich keinerlei negative Gefühle. Ich versuche, allen mit Brüderlichkeit zu begegnen."
Damit wir zusammenleben können, wir diese schlimmen Tage von damals vergessen können, und wir einander wertschätzen.
Mevlüde Genç, Hinterbliebene von Solingen

Wunde und Mahnung für die deutsche Geschichte

Der Brandanschlag von Solingen bleibt Wunde und Mahnung für die deutsche Geschichte.
Solingen 1993 lehrt uns, dass wir von einem Einwanderungsland ausgehen müssen.
Kemal Bozay, Experte für Radikalisierungsforschung und Prävention
"Es gibt viele Menschen, die nicht nur hier zugewandert sind und beschäftigt sind, sondern wir haben viele junge Menschen, die hier geboren und aufgewachsen sind", sagt Kemal Bozay. Und man hätte frühzeitiger eine aktive Integrationspolitik und Partizipationspolitik umsetzen können, findet er.
Auf dem Grundstück in der Unteren Wernerstraße in Solingen wachsen inzwischen fünf Kastanien für die fünf Opfer des Brandanschlags. Das Haus der Familie Genç aber ist nie wieder aufgebaut worden.
Martin Schiffler ist Reporter im ZDF-Landesstudio Nordrhein-Westfalen.

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