: Zwangsinternate für Tibeter: China dementiert

von Elisabeth Schmidt
19.02.2023 | 04:50 Uhr
Hat China eine Million tibetische Kinder von ihren Eltern getrennt und sie in Zwangsinternate gesteckt, um sie ihrer eigenen Kultur zu entfremden? Peking weist den Vorwurf zurück.
Im Klassenzimmer soll meist nur die Sprache gesprochen werden, die die Kommunistische Partei Chinas zulasse: Mandarin. Quelle: epa
Sie werden von ihren Eltern getrennt und dürfen nicht mehr ihre eigene Sprache sprechen. Tibet drohe ein kultureller Genozid, warnen Aktivisten, sollte die Welt China nicht Einhalt gebieten.
Gyal Lo fällt es sichtlich schwer, über seine Großnichten zu sprechen: Sie mussten ihr Heimatdorf in Tibet verlassen und ein Internat besuchen. Eine Wahl hatten ihre Eltern nicht. Die beiden Mädchen sind vier und fünf Jahre alt, als sie ein Bus abholt und zum Unterricht bringt. Im Klassenzimmer wird meist nur die Sprache gesprochen, die die Kommunistische Partei Chinas zulässt: nicht Tibetisch, sondern Mandarin. Nicht der Dalai Lama ist mehr Vorbild, sondern Staatschef Xi Jinping.

Soziologe: Kinder werden Familien entfremdet

Der linientreue Unterricht habe seine beiden Großnichten in kürzester Zeit entfremdet, erzählt Gyal Lo ZDFheute. "Sie haben ihre Eltern und den Großvater nicht mehr umarmt, als sie nach Hause kamen. Sie saßen einfach da, waren distanziert, haben nichts gesagt." Gyal Lo weiter:
Wenn sie spielen, sprechen sie nur noch Mandarin. Wenn das die nächsten 15 bis 20 Jahre so weitergeht, bedeutet das das Ende unserer Geschichte.
Gyal Lo, tibetischer Soziologe
Gyal Lo ist Soziologe und hat mehr als 50 Internate in Tibet besucht und seine Erlebnisse analysiert. Seitdem prangert er systematische Menschenrechtsverletzungen in seiner Heimat an: Die Zwangsumsiedlung von zwei Millionen tibetischen Nomaden, die Zwangsinternate für Schulkinder, das Sammeln von Massen an DNA der Tibeter. Ende 2020 floh Gyal Lo nach Kanada. In seiner Heimat drohten dem Menschenrechtsaktivisten Repressalien.
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Tibet läuft die Zeit davon

Mitte dieser Woche reiste er nach Genf. Er will, dass die Öffentlichkeit nicht weiter die Augen vor Chinas Praktiken verschließt. Die Vereinten Nationen warten seit vier Jahren darauf, dass China sich zu Menschenrechtsfragen in 31 Punkten erklärt. Peking hat seine Berichtspflicht vor dem UN-Sozialausschuss bis jetzt herausgezögert. Tibet läuft die Zeit davon. Der Geschäftsführer der Nicht-Regierungsorganisation International Campaign for Tibet Deutschland (ICT), Kai Müller, sagt:
Wir fürchten, dass die tibetische Kultur im Ergebnis ausgelöscht wird.
Kai Müller
Müller sorgt sich, dass am Ende nur noch eine Fassade davon übrig bleibt: "Eine Art Disneyland von schön aussehenden Tempeln, von Kunst. Aber die Kultur wird nicht mehr gelebt. Das wäre sehr tragisch".

China bestreitet Zeugenberichte

Fast eine Million tibetische Kinder wurden Berichten mehrerer Nicht-Regierungsorganisationen zufolge von ihren Familien getrennt, damit sie Internate besuchen können. Zahlreiche sollen ihre Eltern nur einmal im Jahr sehen dürfen.
Im Menschenrechtsrat wischt China Augenzeugenberichte vom Tisch. "Die Internatsschüler können an den Wochenenden und in den Ferien nach Hause fahren und ihre Familien besuchen. Die Eltern können auch ihre Kinder in den Schulen besuchen oder abholen", sagt ein Delegierter vor der Kommission für Menschenrechte. Und weiter:
Es gibt keine so genannte Zwangstrennung von Eltern und Kindern.
Beim Thema Zwangsumsiedlungen bestätigte die chinesische Delegation lediglich, dass bis 2019 260.000 Tibeter von Hochplateaus umgesiedelt worden waren. China begründet diese Praktik mit Armutsbekämpfung. Für viele Aktivisten ist diese Antwort zynisch.

Chinesische Delegation in Genf

Chinas Delegation versucht in Genf, durch schiere Größe zu beeindrucken: Fast 40 Delegierte sind angereist, üblich sind eine Handvoll. NGOs berichten zudem von fast 20 chinesischen so genannten GONGOs (Governmental-Non-Governmental Organisations), die akkreditiert wurden. Unter dem Deckmantel beispielsweise eines Vereins, der sich für Akkupunktur stark macht, würden diese Organisationen strikt die Linie der Kommunistischen Partei Chinas vertreten. In informellen Briefings mit der UN widersprächen die GONGO-Vertreter dann der Darstellung echter NGOs und nähmen Menschenrechtsaktivisten wertvolle Redezeit weg. Denn je mehr GONGOs sich um Redezeit in den Briefings bewerben, desto weniger Zeit bleibt den Kritikern.
Es existierten zusätzliche Umsiedlungsprogramme, von denen Hunderttausende weitere Tibeter betroffen seien, kritisiert Kai Müller von ICT.
Effektiv haben Tibeter keine Wahl und müssen der Umsiedlung zustimmen, weil sie wissen, dass ihnen andernfalls Verfolgung und massive Nachteile drohen.
Kai Müller, ICT
Doch die UN-Sitzung bleibt zahnlos. Zahlreiche Berichte von Betroffenen verhallen. Die Vereinten Nationen können Öffentlichkeit schaffen, ihre Ausschüsse aber nur Empfehlungen abgeben.
UN-Bericht zu Verstößen gegen Menschenrechte in China:
Sollte die Weltgemeinschaft Pekings Assimilations-Politik durchgehen lassen, befürchten Aktivisten, könnten massive Menschenrechtsverletzungen Schule machen. "Wir müssten eigentlich die Situation in Tibet und auch gegenüber den Uiguren als Frage unserer Sicherheit verstehen", warnt Müller, "weil wir daraus ableiten können, wie die chinesische Regierung sich auch möglicherweise uns gegenüber verhält."
Leere Worte bei den Vereinten Nationen bewahrten die Tibeter nicht vor kulturellem Genozid, sagt Gyal Lo. Er hofft, dass die Welt nun handelt. 

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