: Warum junge Griechen mit Wut wählen gehen

von Andreas Postel, Athen
21.05.2023 | 15:02 Uhr
In Griechenland wird heute das Parlament gewählt: Warum viele junge Griechen mit Wut auf die aktuelle Regierung zur Wahlurne gehen dürften.
Die jungen Griechen haben viele Gründe, ihren Protest an der Wahlurne kundzutun. Quelle: ap
Sie ist 1997 geboren und nennt sich "Nefeli Meg". Mit ihrem YouTube-Kanal erreicht die Influencerin regelmäßig zehntausende junge Griechen. Ihre Generation kennt das eigene Land bisher nur im Krisenmodus: Finanzkrise, Corona-Krise, Energiekrise.
Viele von uns sind ins Ausland gegangen, sagt Nefeli im ZDF-Interview, auch wenn sie selbst der Meinung ist, dass die Dinge nicht mehr so schlimm sind, wie sie es 2009 waren.
Viel Aufmerksamkeit gab es von ihrer Community für ein Interview mit dem griechischen Ministerpräsidenten Kyiakos Mitsotakis im Wahlkampf.

Am 21. Mai wählen die Griech*innen ein neues Parlament. Vor allem die Jungen im Land sind frustriert und prangern Strukturmängel in der Verwaltung, Korruption und Politfilz an.

17.05.2023 | 02:12 min

Kritik an Mitsotakis wegen Abhörskandal

Dem 55-jährigen Spitzenkandidaten der konservativen Nea Dimokratia schlug Kritik entgegen, wegen eines Abhörskandals im vergangenen Jahr, bei dem zahlreiche Politiker und Journalisten vom Geheimdienst belauscht wurden.
Der Zirkel um Kyriakos Mitsotakis, der sich als liberal versteht, muss sich Kritik wegen schwerwiegender Verletzungen von Freiheitsrechten gefallen lassen, so Aristidis Chatzis, Professor für Institutions- und Rechtsphilosophie in Athen.

Seit dem Zugunglück vergangene Woche, bei dem 57 Menschen ums Leben kamen, protestieren die Griechen gegen die Regierung. Sie fordern politische Konsequenzen.

12.03.2023
Besonders aber das schlimmste Zugunglück in der Geschichte des Landes am 28. Februar auf der Strecke Athen-Thessaloniki mit 57 Toten zog tagelange Proteste nach sich, vor allem von Studenten.

Griechische Wirtschaft überdurchschnittlich gewachsen

Dem 55-Jährigen Mitsotakis wird vor allem angerechnet, dass er in seiner Regierungszeit ein Stück weit Vertrauen in die Zukunft zurückgegeben hat.

Kyriakos Mitsotakis, Nea Dimokratia (ND)

Der 55-jährige Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis strebt mit seiner Partei Nea Dimokratia eine zweite Amtszeit an. Er beruft sich im Wahlkampf auf das Wirtschaftswachstum der zurückliegenden vier Jahre und eine solide Außenpolitik mit zwei wichtigen Bündnissen mit den USA und Frankreich. Mitsotakis hat einen Abschluss der Universität Harvard und hat als Berater für McKinsey gearbeitet. "Wir haben jetzt viel mehr Erfahrung, um die Veränderungen anzugehen, die aus Griechenland einen modernen europäischen Staat machen werden", sagte er im Mai in einem Fernsehinterview.

Nach seinen Worten muss das Land angesichts des Ukraine-Krieges und anderer Herausforderungen derzeit mit "starker Hand" geführt werden. Wenn seine Partei, deren Chef er seit 2016 ist, nicht wiedergewählt würde, wäre Griechenlands Wirtschaftsaufschwung gefährdet.

Mitsotakis kommt aus einer Politiker-Familie und versucht, im Umgang mit den Wählern sein elitäres Image abzuschütteln. Sein Vater Konstantinos Mitsotakis war vor drei Jahrzehnten Ministerpräsident, seine Schwester Dora Bakoyannis war Ministerin und die erste Bürgermeisterin von Athen. Der derzeitige Bürgermeister von Athen, Costas Bakoyannis, ist ihr Sohn und sein Neffe.

Mitsotakis ist mit der Unternehmerin Mareva Grabowski verheiratet, die die Luxus-Modemarke Zeus+Dione mitgegründet hat. Sie haben drei Kinder.

Alexis Tsipras, Syriza

Alexis Tsipras war von 2015 bis 2019 Regierungschef, als Griechenland durch eine Schulden- und Finanzkrise ging, die Europa jahrelang in Atem hielt. Er will von den Wählerinnen und Wählern nun eine zweite Chance bekommen, um zu zeigen, was seine linke Partei Syriza erreichen kann, wenn die Staatsausgaben nicht von der EU und vom Internationalen Weltwährungsfonds (IWF) gedeckelt werden.

Drei Mal hatten EU und IWF Griechenland ab 2010 vor dem Staatsbankrott gerettet, allerdings mit strikten Sparauflagen. Bedingung für die Rettungskredite waren etwa massive Kürzungen bei Renten und Gehältern, der monatliche Mindestlohn fiel damals auf weniger als 600 Euro.

Tsipras hatte sich den Auflagen der Gläubiger lange so energisch widersetzt, dass das Land fast den Euro verlassen musste. Erst im letzten Moment lenkte er ein und akzeptierte ein drittes Rettungspaket. 2018, also kurz vor Ende seiner Regierungszeit, lief das dritte Kreditprogramm. Seine Partei hat sich seither weiter in die politische Mitte bewegt.

Tsipras war der erste offen atheistische Ministerpräsident im religiösen Griechenland und der jüngste seit hundert Jahren. "Schluss mit Profiten, Ungleichheit, Vetternwirtschaft, Gleichgültigkeit, Arroganz, Ungerechtigkeit", sagte Tsipras in der vergangenen Woche bei einer Wahlkampfveranstaltung in Larisa. Er wirft Mitsotakis vor, Milliarden Euro an politische Verbündete und seine Familie verschwendet zu haben.

Tsipras kam mit 16 zur Politik, als er Schulproteste gegen die Bildungspolitik von Mitsotakis' Vater organisierte. In seiner Partei, die damals noch Synaspismos hieß, stieg er schnell auf, weil für die Bürgermeisterwahl in Athen 2006 ein neues Gesicht gesucht wurde. Zwei Jahre später wurde er Parteichef.

Tsipras ist seit der Schulzeit mit Betty Baziana zusammen und hat mit der Ingenieurin zwei Kinder.

Nikos Androulakis, Pasok

Der 44-jährige Nikos Androulakis ist der Vorsitzende der sozialdemokratischen Partei Pasok-Kinal. Er wurde schon direkt nach seiner Wahl zum Parteichef 2021 als möglicher Koalitionspartner für Mitsotakis gehandelt. Aber dann wurde bekannt, dass Androulakis' Telefon vom Geheimdienst überwacht wurde. Seither fordert er eine Aufklärung der Abhöraffäre.

Androulakis ist Bauingenieur und war schon in der Parteijugend der Pasok engagiert. Für zwei Wahlperioden saß er im Europaparlament, im Parlament in Athen sitzt er bisher nicht. Im März verblüffte er Öffentlichkeit mit der Bemerkung, er werde nur in eine Regierung eintreten, die weder von Mitsotakis noch von Tsipras angeführt werde. Androulakis kommt wie Mitsotakis von Kreta und ist alleinerziehender Vater.

Quelle: AFP

Die griechische Wirtschaft ist doppelt so stark gewachsen, wie im europäischen Durchschnitt. Internationale IT-Unternehmen kommen ins Land, bieten neue Jobs und die Löhne steigen, wenn auch langsam. Der Mindestlohn wurde erhöht, die Renten angehoben.
Das alles habe, so Alexis Routzounis vom Meinungsforschungsinstitut Kappa Research, eine positive Wahrnehmung in der Gesellschaft geschaffen. Trotz des immer noch niedrigen Einkommensniveaus sind laut Umfragen rund 45 Prozent der Griechen der Meinung, dass die Wirtschaft besser dasteht als noch vor vier Jahren.

IT-Branche ringt um Fachkräfte

Zudem habe Mitsotakis seinem Land auf internationaler Bühne wieder mehr Ansehen verschafft. Auf der Tech-Saloniki werben IT-Firmen um eine seltene Spezies - junge, gut ausgebildete Informatiker.
Maria Rammou organisiert die Jobbörse und erzählt, dass die aufstrebende Branche in Thessaloniki händeringend Fachkräfte sucht. Bislang kommt der Aufschwung längst nicht bei allen an.

Perspektiven für junge Menschen fehlen

Nach zehn Jahren hartem Sparkurs infolge der Staatsschuldenkrise ist das Verarmungsrisiko in Griechenland hoch, trotz staatlicher Hilfen. Viele junge Menschen können sich keine eigene Wohnung leisten.
Der Gedanke an eine Familie, an Kinder verursacht ihnen berechtigterweise Angst und Panik, so Prof. Nikos Marantzidis, Politikwissenschaftler an der Makedonien Universität in Thessaloniki.
Er ist der Meinung, dass in Griechenland das gesamte politische System in den letzten 20 Jahren kläglich damit gescheitert ist, Bedingungen zu schaffen, die die junge Generation fördern und die mehr Perspektiven schaffen, als es sie jetzt gibt.

Opposition setzt auf soziale Gerechtigkeit

Soziale Gerechtigkeit ist das große Thema von Oppositionsführer Alexis Tsipras. Zum Wahlkampfabschluss der linken Syriza auf dem Syntagma-Platz in Athen ruft er seinen Anhängern zu, er wolle Schluss machen, mit der sozialen Ungerechtigkeit, mit Profitgier und mit der Ungleichheit.
In der Zeit der Sparprogramme zwischen 2010 und 2017 sind die Einkommen in Griechenland um ca. 30 Prozent eingebrochen, so Panagiotis Petrakis, Professor für Ökonomie an der Universität von Athen.
Das Einkommensniveau muss wieder auf das vor der Krise zurückkehren können, doch dazu braucht es das nötige Gleichgewicht der Staatsfinanzen, um damit wieder eine diesbezüglich gute Entwicklung anstoßen zu können, so Petrakis.
Für die junge griechische Generation wäre das ein gutes Zeichen, nach all den Krisenjahren, die sie bislang erlebt hat.

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