Interview

: Trotz Job sind immer mehr Menschen gefrustet

von Lothar Becker
09.12.2023 | 15:35 Uhr
Die Dozentin Sabine Grosser beobachtet bei ihren Seminaren in Firmen und Behörden eine Zunahme von Motivationslosigkeit. Dabei geht es fast immer auch ohne Frust.
Stress im Job (Symbolbild)Quelle: Colourbox.de
ZDFheute: Beim Versuch, Sie per E-Mail zu kontaktieren habe ich eine automatisierte Antwort bekommen, die mir sympathisch aber unmissverständlich klargemacht hat, dass Sie gerade Urlaub haben und sich erst melden, wenn dieser vorbei ist. Zu wissen, wenn ich frei habe, habe ich auch wirklich frei - kann das effektiv den Frust bekämpfen und die Motivation heben?

Sabine Grosser ...

Quelle: privat
... ist Dozentin der FOM Hochschule, Trainerin, Business Master Coach und Alexander-Technik-Lehrerin. Sie berät Mitarbeitende und Führungskräfte darin, wie sie resilient und erfolgreich ihren Arbeitsalltag meistern. Als studierte Betriebswirtin und frühere Marketingleiterin im Versicherungs- und IT-Umfeld glaubt sie fest daran, dass nur in einem wertschätzenden Betriebsklima langfristig gute Leistungen und Kundenbetreuung möglich sind. Besonders am Herzen liegt ihr die Arbeit mit berufstätigen Frauen, die im Spagat zwischen Beruf und Familie zu kurz kommen.
Sabine Grosser: Das ist tatsächlich auch etwas, das viele Arbeitnehmende lernen dürfen. Es ist in unserem biologischen System verhaftet, dass wir uns nur dann erholen können, wenn wir den Kopf frei bekommen und abschalten können. Jetzt gibt es für mich als Selbstständige ein "Aber" an der Stelle: Ich unterscheide nicht zwischen Arbeit und Freizeit, sondern zwischen dem, was mir Energie bringt und was mir Energie raubt. Und wenn ich Arbeit interessant finde und es etwas ist, was mir Spaß macht, kann ich reagieren und antworten.

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ZDFheute: Warum ist die Wahl zu haben gerade beim Thema Frust und Motivation entscheidend?
Grosser: Weil der größte Stressfaktor für Menschen fehlende Kontrolle ist, fehlende Einflussmöglichkeit. In dem Augenblick, in dem ich fühle, die Wahl zu haben und Einfluss nehmen zu können, die Richtung mitbestimmen zu können, fühle ich mich auch bei großer Arbeitsbelastung nicht so gestresst.
ZDFheute: Sie sagen, dass der Frust bei Beschäftigten über Branchen und unterschiedliche Aufgabenbereiche hinweg in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat. Was hat zu dieser Entwicklung geführt?
Grosser: Was sich verändert hat, ist der allgemeine Arbeitskräftemangel. Dadurch kommt auf die verbleibenden Menschen eine höhere Arbeitsbelastung zu. Das heißt: Der Puffer, wenn mal jemand krank ist, wenn mal jemand im Urlaub ist, ist nicht mehr gegeben. Wenn alles sowieso schon knapp bemessen ist und dann noch jemand fehlt, erleben Mitarbeitende ein ständiges Hinterherlaufen, was die Arbeitsbelastung angeht.

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Ich beobachte, dass Menschen, die seit langer Zeit im Betrieb sind, ein hohes Pflichtbewusstsein haben, dass am Ende des Tages die Arbeit geschafft sein muss. Sie sind unzufrieden, wenn genau das nicht der Fall ist. Da braucht es einen Umlernprozess.
Sabine Grosser
Ich versuche, den Menschen zu erklären, dass sie ihre Kriterien, wann sie mit sich zufrieden sein dürfen, anders bemessen müssen oder sollten. Wenn ich mir beispielsweise drei Dinge für einen Tag vornehme und die schaffe, darf ich mit mir zufrieden sein. Selbst wenn 15 noch in der Warteschleife hängen, die ich aber ohnehin nicht hätte schaffen können, weil es von vornherein eine unlösbare Aufgabe war.
ZDFheute: Und wenn die Chefin oder der Chef darauf besteht, dass alles fertig werden muss?
Grosser: Mitarbeitende sollten ihrer Führungskraft anzeigen, wenn es zu viel ist. Führungskräfte müssen häufig nichts durchboxen, weil die Menschen, die die Arbeit machen, so viel Pflichtbewusstsein haben, dass sie trotz Überlastung Unmögliches möglich machen. Dadurch ist der Druck für die Führungskraft nicht groß genug, um die Belastung für die Belegschaft zu senken.
ZDFheute: Ist das die Lösung gegen Frust? Gute Führungskräfte, die die Anforderungen an eine Abteilung oder Firma kennen und gleichzeitig auf das Team und dessen Leistungsfähigkeit achtgeben?
Grosser: Ein großer Teil der Lösung ist, dass die Führungskraft nicht der beste Experte des Fachs ist, sondern dass die Führungskraft Freude daran hat, Menschen zu führen. Ich vermeide das Wort Vorgesetzter, weil ein Vorgesetzter sitzt davor, eine Führungskraft führt.

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